Die Wege sind verschlungen. Es gibt keinen klaren Pfad, den jeder gehen muss.
Spätzünder oder Überflieger – der Weg zur Nationalelf
Wenn man an deutsche Nationalspieler denkt, spricht man oft über frühe Entdeckungen. Über Talente, die schon mit 15 Jahren in DFB-Trikots stecken und deren Weg in die A-Nationalmannschaft fast vorgezeichnet zu sein scheint.
27 Jahre und 248 Tage. So alt war Deniz Undav bei seinem Debüt für die deutsche Nationalmannschaft unter Nationaltrainer Julian Nagelsmann. Ein ungewöhnlich spätes Debüt. Der gebürtige Friesländer wurde beim Testspiel gegen Frankreich in der 80. Spielminute eingewechselt. Sein Weg zum Nationalspieler war lang. Er führte ihn von der deutschen Regionalliga beim TSV Havelse, über Stationen im Ausland, bei Royale Union Saint-Gilloise in Belgien und Brighton & Hove Albion in England, bis hin zum VfB Stuttgart zurück nach Deutschland. Dort gelang ihm 2023 der große Durchbruch und dann 2024 auch der Sprung in die deutsche Nationalmannschaft. Das besondere an seiner Karriere: Deniz Undav durchlief keine einzige der sieben U-Nationalmannschaften des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Auch in keinem der deutschlandweit 58 Nachwuchsleistungszentren war er aktiv.
Im Gegensatz dazu gilt Jonathan Burkardt als “Paradebeispiel”. Er steht aktuell in der Bundesliga bei Eintracht Frankfurt unter Vertrag. Dorthin wechselte der heute 25-jährige im Sommer 2025 vom FSV Mainz 05. Burkardt gab sein Debüt in der A-Nationalmannschaft im Oktober 2024 gegen Bosnien und Herzegowina, wurde aber davor schon früh als Talent erkannt und gefördert. Zum einen im Nachwuchsleistungszentrum in Darmstadt und in Mainz, zum anderen auch durch die Förderstrukturen des DFB. Er durchlief jede der sieben U-Nationalmannschaften, von der U15 bis zur U21-Nationalmannschaft. Damit ist Jonathan Burkardt der einzige Spieler im aktuellen A-Kader von Julian Nagelsmann, der diese Laufbahn absolvierte.
Getrennte Wege – gleiches Ziel
Beide Spieler laufen heute mit dem Adler auf der Brust für die deutsche Nationalmannschaft auf. Ihre unterschiedlichen Karrierewege sind dabei im deutschen Fußball kein Einzelfall. Das zeigen nicht nur die Karrieren der heutigen Nationalspieler, sondern auch die Perspektive von denjenigen, die am dichtesten dran sind: den Trainer*innen im Nachwuchs.
Der aktuelle U16-Bundestrainer Michael Prus ist seit 2007 beim DFB und hat schon Fußballstars wie Leon Goretzka und Joshua Kimmich unter seinen Fittichen gehabt. Er sieht hautnah, wie unterschiedlich Spieler sich entwickeln und wie wenig ein früher Leistungsstand über die Zukunft verrät. „Die Wege sind verschlungen“, sagt Prus. „Es gibt keinen klaren Pfad, den jeder gehen muss“.
Um zu verstehen, wie häufig solche unterschiedlichen Karrierepfade tatsächlich vorkommen, haben wir die Laufbahnen aller Spieler analysiert, die Bundestrainer Julian Nagelsmann seit Beginn seiner Amtszeit im September 2023 bis Juni 2025 in den A-Nationalkader berufen hat.
Ein Blick auf das Netzwerk zeigt ein überraschend deutliches Muster: Für die Mehrheit der Spieler führte der Weg zur A-Nationalmannschaft über die Nachwuchsteams des DFB. Ganze 50 der 55 Spieler aus der Erhebung haben mindestens eine U-Nationalmannschaft durchlaufen, viele davon konnten sogar in mehreren U-Nationalteams Erfahrungen sammeln. Besonders die U21 erscheint in der Visualisierung als zentraler Verbindungsknoten, der zusammen mit den anderen U-Nationalmannschaften (ausgenommen die U15) ein dichtes Cluster im Gesamtnetzwerk bildet. Daraus ergibt sich die starke Vernetzung zwischen den U-Nationalteams und den Spielern und ein Hinweis darauf, welche große Rolle die Nachwuchsteams des DFB für die Entwicklung der heutigen Nationalspieler spielen. Doch auch hier gibt es Ausnahmen – oder besser gesagt Ausnahmetalente.
Im Gesamtnetzwerk noch mit Vereinen vernetzt, fallen sie im Teilnetzwerk der U-Nationalmannschaften aus dem Raster: Fünf kleine Punkte, die keine Verbindungen aufweisen und als Einzelgänger am Rand zu stehen scheinen. Doch Einzelgänger sind die Spieler bei weitem nicht. Denn, da ist sich U16-Nationaltrainer Michael Prus sicher, an Willen und Einsatzbereitschaft in ihren Vereinen fehlte es den Spielern nicht. So sind sie nicht den „perfekten“ Karriereweg durch die U-Mannschaften des DFB gegangen, aber sie waren bereit dazu, Einsatz in ihrem Team zu zeigen und sich im Erwachsenenalter an die Fußballspitze in Deutschland zu spielen.
Vom Underdog zum Rising Star
Gründe für eine Erst-Nominierung in den DFB-Kader im Erwachsenenalter gibt es viele, die unter anderem von aktuellen Beispielen untermauert werden. So tauchte beispielsweise Aleksandar Pavlović erstmals in der U20 im DFB-Kader auf. Trainer Michael Prus erinnert sich im Gespräch gut an den inzwischen 21-Jährigen, der 2024 sein Debüt in der deutschen A-Nationalmannschaft gab. Auf Nachfrage von Prus, warum er in keiner früheren Nachwuchs-Auswahl gespielt hatte, kam von Pavlović eine amüsierte Antwort. „Ich war ein schmaler, kleiner Spieler, der nicht einmal schnell war, nichts“, erinnert sich Prus an die Worte des aktuellen Nationalspielers. Genau diese körperliche Benachteiligung sieht der Trainer auch als einen der größten Auslöser dafür, warum manche der heutigen Nationalspieler erst so spät den Weg in die Nationalmannschaft einschlugen. So konnten sie sich in früheren Jahren in ihrer Altersklasse nicht durchsetzen, sind aber stets am Ball geblieben. Mit den Jahren kam zum vorhandenen Talent dann die körperliche Reife dazu.
Die Top-Tiere der deutschen Liga
Doch Pavlovićs Geschichte zeigt noch einen weiteren Aspekt, der sich auch in unserer Netzwerkanalyse widerspiegelt: Sein Sprung in die Nationalmannschaft erfolgte erst, als er sich beim FC Bayern München durchgesetzt hatte. Der FCB ist ausgerechnet jener Verein, der im Netzwerk mit Abstand am stärksten mit der deutschen A-Nationalmannschaft verknüpft ist. Mit 15 Verbindungen taucht der Rekordmeister im Datensatz gemeinsam mit Borussia Dortmund als zentralster Vereinsknoten auf. Es wirkt fast symbolisch: Ein Spieler, der jahrelang unter dem Radar lief, schafft den Durchbruch genau in dem Umfeld, das im deutschen Fußball als eines der wichtigsten Ausbildungssysteme gilt. Pavlović ist aber keineswegs der einzige, dessen Karriere eng mit einem der „Knotenvereine“ verknüpft ist. Auch Deniz Undav erreicht den Höhepunkt seiner Karriere im deutschen Nationalkader erst beim VfB Stuttgart, einem Club, der in der Analyse weit oben auftaucht. Mit dreizehn Verbindungen gehört der VfB zu den fünf Vereinen, die besonders häufig Teil der Karrierewege heutiger Nationalspieler sind. Besonders auffällig: Erst an elfter Stelle kommt mit Manchester City der erste internationale Verein. Ein Zeichen dafür, dass Deutschland seinen Nationalkader nach wie vor größtenteils in Vereinen im eigenen Land ausbildet.
Das Netzwerk zeigt also: Ja, die Nachwuchsstrukturen des DFB spielen eine zentrale Rolle für viele Nationalspieler. Aber nein, sie sind keine Garantie und schon gar keine Voraussetzung für eine Spielerkarriere beim DFB. Spieler wie Undav oder Pavlović zeigen, dass es manchmal keine U15 oder U17 braucht, sondern genau das, was Prus so treffend formuliert: „Wenn ich weiter gut werden will, nehme ich eben einen anderen Weg und zeige ihnen, dass ich es trotzdem schaffen kann.“ Ob Spätzünder oder Überflieger – Mit Ehrgeiz und Durchhaltevermögen ist der Sprung in die A-Nationalmannschaft unabhängig vom Alter zu schaffen.
Dieser Artikel bezieht sich auf eine Netzwerkanalyse über die Karrierewege der deutschen Nationalspieler. Dafür haben wir alle Nationalspieler, die seit dem Amtsantritt von Julian Nagelsmann im Juli 2023 bis Juni 2025 nominiert wurden, untersucht. Genauer haben wir uns die Karrierewege der Spieler ab der U15-Nationalmannschaft mithilfe der Fußballdatenbanken transfermarkt.de und datencenter.dfb.de angesehen und diese analysiert.
Der Datensatz zu unserer Erhebung ist hier einsehbar.