"Man ist auch ein Mensch mit Gefühlen und nicht nur blind."
Licht aus – Sinne an
Erster Vorhang, es wird dunkler. Zweiter Vorhang, komplette Finsternis. Man sieht nicht einmal die eigene Hand vor Augen. Der Geruch von angebratenen Zwiebeln liegt in der Luft. Ein Gefühl der Unsicherheit schleicht sich ein: Was erwartet mich heute Abend? Zusammen mit den anderen Gästen betritt Fanny Haun das Dunkelrestaurant durch eine Lichtschleuse. Ihre Hände hat sie fest auf den Schultern des Vordermanns platziert: für mehr Orientierung und Sicherheit im Dunkeln. Angeführt wird die Polonaise von der jeweiligen Bedienung des Abends.
Fanny hat das Dunkelrestaurant „Aus:sicht“ vergangenen Dezember besucht. Ihr Partner Florian Günther arbeitet dort seit über elf Jahren als Kellner. Der 29-Jährige ist blind. „Man setzt die Sinne anders ein und konzentriert sich mehr auf sie“, beschreibt Florian seine Erfahrung als blinder Mensch.
Das Konzept
Dunkelrestaurants sind Orte, an denen blinde und sehbehinderte Personen sehende Menschen in vollkommener Dunkelheit bedienen. Das erste Dunkelrestaurant eröffnete 1999 in Zürich. Das sogenannte „Dinner in the Dark“ etablierte sich nach und nach vor allem in der Eventgastronomie. Das Konzept ist fast immer gleich. Die oberste Priorität: Der Raum muss stockdunkel sein. Die Gäste müssen jegliche Lichtquellen wie Handys, Armbanduhren oder Kameras vor dem Betreten des Restaurants abgeben. Außerdem werden die Besuchenden durch eine Lichtschleuse geführt, die aus mehreren Vorhängen besteht. Dem Licht soll keine Chance geboten werden. Um den Gästen vorweg ein sicheres Gefühl zu geben, lernen sie die zugewiesenen Bedienungen gleich am Anfang persönlich kennen.
Ein Mensch ist blind, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 2 % von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt. (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.)
Das Dunkelrestaurant in Stuttgart ist eine Kooperation von dem Verein „Aus:sicht“ und dem Restaurant Rosenau. Drei Tage im Monat öffnen sich die Türen für alle, die ihre Sinne auf die Probe stellen wollen. Es wird ein Drei-Gänge-Menü geboten, sowie ein halbstündiges Kulturprogramm, bei dem unter anderem Musiker*innen aus der Umgebung auftreten. Alle Sinne kommen zum Einsatz – außer das Sehen. Ein Menü kostet 89 Euro. Jeder Gast bekommt 15 Euro in Münzen ausgezahlt, die in einem Beutel um den Hals gehängt werden. Mit den Münzen haben die Besuchenden die Möglichkeit, Heißgetränke und Alkoholisches bar zu bezahlen.
Zwischen Geschmack und Empathie
Die Philosophie des Vereins ist es, für Blinde und Sehbehinderte, Arbeitsplätze zu schaffen. „Mir macht es Spaß, den Gästen mal die Welt eines blinden Menschen zu zeigen“, sagt Florian. Er betont, wie wichtig es ihm sei, mit Klischees gegenüber Blinden aufzuräumen und Aufklärungsarbeit zu leisten: „Man ist auch ein Mensch mit Gefühlen und nicht nur blind“, sagt der Informatik-Student.
In dem Dunkelrestaurant wird der Austausch zwischen den Gästen und dem Personal gefördert. Florian betont, er weise seine Gäste aktiv darauf hin, ihm Fragen zu stellen. Bis jetzt hatte er immer eine Antwort parat. Eine der am häufigsten gestellten Fragen sei, ob blinde Menschen träumen. Für Florian sei eine Antwort darauf schwierig. Er erzählt, er habe noch gesehen, bis er 12 Jahre alt war. Er kann sich also noch daran erinnern, wie die Welt um ihn herum aussieht. In seinen Träumen würden Bilder zu Situationen erscheinen: „Ich bin auch ein Mensch, der viel in Bildern denkt.“ Bei Menschen, die schon ihr Leben lang blind sind, sei das wahrscheinlich anders, vermutet Florian.
Das Auge isst mit – oder doch nicht?
Bulgur-Salat, Tomatensuppe mit Bärlauch-Croutons, Kalbsrahmbraten mit Kartoffel-Sellerie-Stampf, grüne Bohnen und Möhren. Das alles und mehr stand im April auf der Speisekarte des Restaurants. Die Gäste bekommen immer ein Drei-Gänge-Menü, sowie einen Gruß aus der Küche geboten. Die Gänge wechseln monatlich und jedes Mal gibt es eine vegetarische Alternative. Die Besucher wissen nicht, was ihnen aufgetischt wird. Das ist Teil des Konzepts. Nach jedem Gang hakt Florian bei den Gästen nach und lässt sie das Essen erraten. Danach löst er das Rätsel.
In der folgenden Tonspur erzählt Florian von einer besonders amüsanten Situation, die er so schnell nicht vergessen wird:
„Ich schmecke ja das, was ich esse“, denkt sich auch Fanny Haun. Der Besuch im Dunkelrestaurant überzeugt sie vom Gegenteil. Sie erzählt, wie sicher sie war, als Vorspeise eine Kürbissuppe zu essen. Einer ihrer Freunde tippte auf Kartoffelsuppe. Beide lagen falsch: Maronensuppe wäre die richtige Antwort gewesen. Offenbar kann einem der Geschmackssinn einen Streich spielen.
Aber wie kommt man als Gast damit klar, sich nicht mehr auf die eigenen Augen verlassen zu können? Fanny selbst hatte kein Problem mit der Dunkelheit. Florian nehme aber oft wahr, dass die Gäste anfangs zittern und schwitzige Hände bekommen. Die meisten würden sich dann aber gut auf die Situation einlassen können. „Man muss ruhig bleiben“, so der Student. Seine schönsten Erinnerungen: Wenn Gäste sich bei ihm bedanken, weil sie sich ihrer Angst gestellt haben.
Eine "Blindenkultur" – Gibt es die?
„Der Begriff „Blindenkultur“ ist eine neue Wortkreation, die gibt es so nicht“, erklärt Marc Fischer. Er ist wie Florian Vorstandsmitglied bei „Aus:sicht“. Was es aber durchaus gebe, sind spezielle Angebote für Blinde und Sehbehinderte. Darunter fallen Wandergruppen, Spieleabende und Museumsführungen. Viele Menschen würden diese Angebote wahrnehmen und sehen sie als eine Art „Safe Space“, so Fischer. Florian ergänzt, es würden sich weltweit Gruppen für blinde Menschen bilden, die sich über Themen wie Kochen, Haushalt oder technische Fragen austauschen und gegenseitig helfen. „Man kann sich gut vernetzen, ist aber auch nicht dazu gezwungen“, sagt der 29-Jährige. Er selbst sei über das Dunkelrestaurant schon vernetzt genug. Wenn er Hilfe brauche, habe er dort genug Ansprechpersonen.
Nach über vier Stunden laufen Fanny und ihre Freunde wieder als Polonaise aus dem Restaurant. Durch die Lichtschleuse hindurch wird es langsam wieder heller. „Bitte erst auf den Boden schauen“, kommt die Anweisung der Bedienung. Die Augen müssen sich erst wieder an das Licht gewöhnen. Ein neuer Termin für den nächsten Besuch ist schon festgelegt. Nächstes Mal will die Studentin ihre Eltern mitnehmen.