Lass uns über Gefühle reden
„Was empfindest du für mich?“ Eine Frage, auf die viele nur mit einem ratlosen Schulterzucken reagieren können. Klar, wir alle kommen einmal in die Situation, Gefühle nicht genau definieren zu können. Doch diese Verwirrtheit dauert meist nur kurz an.
Bei 10 Prozent der Bevölkerung bleibt sie hingegen dauerhaft bestehen – diese Menschen leiden unter Alexithymie, auch genannt Gefühlsblindheit oder Gefühlskälte. Dabei handelt es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal, bei dem die Wahrnehmung der Emotionen gestört ist.
Begriffserklärungen
Emotionen
Sind ein zeitlich begrenzter Zustand, den man sowohl psychisch als auch körperlich wahrnehmen kann. Sie sind häufig im menschlichen Verhalten erkennbar.
Gefühle
Sind das subjektive Empfinden einer Emotion. Sie sind der Grundstein für menschliches Handeln.
Ich weiß wovon meine Freundin spricht, wenn sie lächelnd von Schmetterlingen im Bauch erzählt und kann beinahe das Kribbeln und die leichte Übelkeit am eigenen Körper spüren. Betroffenen von Alexithymie hingegen fällt es nicht nur schwer, Gefühle in Worte zu fassen, sondern auch die damit verbundenen körperlichen Empfindungen einer Emotion zuzuordnen. Sie spüren zwar eine innere Erregung, können aber nicht erkennen, ob es sich um leibliche Schmerzen, Wut oder Liebe handelt. Ein Leben, das ich mir ziemlich farblos und trist vorstelle.
Die Rolle von Gefühlen in der Generation Y
Aber wieso ist das Leben ohne Gefühle so schwer vorstellbar, wo diese häufig als ablenkend bezeichnet werden und viele im digitalen Zeitalter kaum Wert darauf legen, etwas wirklich zu fühlen?
Deutsche verbringen im Schnitt siebeneinhalb Stunden am Tag vor dem Bildschirm (Studie „Wie gesund lebt Deutschland?“, der Krankenkasse DKV). Diese Bildschirmzeit verbringen wir unter anderem mit Arbeit, Spielen und Sozialen Medien.
Ich denke, ich kann von mir auf andere schließen, wenn ich behaupte, ich habe noch nie einen Wutanfall bekommen, während ich durch Instagram gescrollt habe und bin bei einer Facebook-Benachrichtigung noch nie in Tränen ausgebrochen. Das Höchste der Gefühle ist tatsächlich ein Schluchzer während eines guten Films oder ein Schmunzeln beim Empfangen eines lustigen Memes.
Fast ein Drittel des Tages verbringen wir vor dem Bildschirm, beenden unsere Beziehungen über WhatsApp und erzählen Alexa, nach welcher Musik uns ist. Auch bei IKEA an der Selbstbedienungskasse bekommen wir statt eines Lächelns der Verkäuferin ein „Vielen Dank für Ihren Einkauf!“ auf einem Bildschirm zu sehen. Wozu dann also noch die Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen? Viele von ihnen sind nicht einmal angenehm, geschweige denn einfach zu bewältigen.
Wollen wir Negatives überhaupt fühlen?
Sehen wir auf einer Party, wie sich unser Partner mit einer anderen Person amüsiert, lacht und tanzt, spüren wir reflexartig ein Stechen im Bauchbereich. Wir sind eifersüchtig. In den meisten Fällen wissen wir, dass diese Sorgen und die damit verbundenen Emotionen unbegründet sind, können sie jedoch trotz allem nicht steuern oder unterdrücken. Wir wünschten uns also, sie nicht zu empfinden. Dasselbe gilt auch, wenn wir in der Öffentlichkeit versuchen, Tränen zurückzuhalten.
Im Alltag gelten Gefühle als Schwäche. Gehen wir aus dem Haus, sind wir unauffällig, anständig, angepasst – bloß keine Emotionen zeigen. Egal wie stark unsere Persönlichkeit ist: Gefühle machen angreifbar. Verspüren wir unterbewusst die Angst, uns verletzlich zu machen, dann verbergen wir unsere Gefühle und verschließen uns.
Darum sind Emotionen überlebenswichtig
Noch mehr als auf unsere Freunde, die uns gute Ratschläge geben, können wir uns auf unsere Gefühle verlassen. Sie sind vielleicht nicht immer beständig, dafür aber ausnahmslos ehrlich und unverfälscht.< /p>
Besonders emotionale Situationen haben wir nicht nur sehr lebhaft und farbenfroh, sondern auch für außerordentlich lange Zeit in Erinnerung. Nur die wenigsten Menschen vergessen ihre Hochzeit oder den Tod ihrer Katze. Dieses Erinnern wiederum führt zu einem langfristigen Lerneffekt. Auch evolutionspsychologische Ansätze betonen, dass Emotionen entstanden sind, um wiederkehrende relevante Situationen zu bewältigen. Haben wir den Tod der besagten Katze als besonders schmerzhaft in Erinnerung, lernen wir daraus, mit Menschen, die gerade ihr Haustier verloren haben, mitfühlend und rücksichtsvoll umzugehen.
Zudem helfen uns Emotionen auch bei der Entscheidungsfindung. Empfinden wir Angst vor einer Schlange, reagieren wir darauf mit erhöhtem Puls und müssen nicht lange nachdenken: Die entstandene Emotion gibt uns den Ansporn wegzurennen und dient damit unserem Selbstschutz.
Warum wir mehr fühlen sollten
Es gibt also genügend Gründe, Gefühle und Emotionen zu haben. Jeder von uns, der empfinden und etwas verspüren kann, sollte diese Fähigkeiten nicht nur nutzen, sondern auch wertschätzen. Wir sollten die Digitalisierung und die damit verbundene sinkende Notwendigkeit für zwischenmenschlichen Kontakt im Alltag nicht als Ausweichmöglichkeit nutzen, uns mit unseren Gefühlen und Emotionen auseinandersetzen zu müssen.
Also lassen wir uns berühren, bezaubern, erschüttern, lähmen und überwältigen, denn das ist, was das Leben wirklich lebenswert macht.