„Geschichte wiederholt sich – das sollten wir verhindern.“
Ganz neue Wege gegen das Vergessen

Uns läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als wir vor dem Hotel Silber in Stuttgart stehen. Heute ein Museum, doch in der NS-Zeit war hier das Hauptquartier der Gestapo. So oder so ähnlich könnte es sich anfühlen die Website „Walkable History“ zu nutzen, denn das Projektteam um Milad Arianta arbeitet an neuen kreativen Möglichkeiten, die Geschichte zu entdecken.
Im Jahr 2022 starteten Studierende der Hochschule der Medien das Projekt „Walkable History“, um Geschichte in Stuttgart erlebbar zu machen. Nun widmet sich ein neues Team dem Projekt und bringt ganz neue Ideen mit. Noch wird nur an einem Prototyp gearbeitet, bei der anstehenden Media Night der Hochschule der Medien soll aber jeder davon profitieren können. Wir haben mit Projektleiter Milad Gesprochen, um zu erfahren, was ihn und seine Mitstreiterinnen antreibt.
Ein Projekt, das den Alltag bestimmt
Milad kommt einige Minuten zu spät zu unserem Interview, das wir auch nur via „Zoom“ führen können. Nicht weil er es vergessen hat und es ihm nicht wichtig ist, sondern viel mehr, weil er direkt aus einem Termin mit seiner zuständigen Professorin kommt. Das Projekt scheint momentan seinen kompletten Alltag zu beherrschen. Er koordiniert die Arbeit seiner vier Teammitglieder. Gemeinsam wollen sie eine bestehende Website ganz neugestalten. Aber was genau ist nun „Walkable History“?
Geschichte wird erlebbar
„Walkable History“ widmet das sich der Frage, wie Erinnerung an den Nationalsozialismus in Stuttgart heute aussehen kann – digital, ortsbezogen und zeitgemäß. Ziel ist es, Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern erlebbar zu machen.
„Walkable History“ entwickelt digitale, thematische Stadtrundgänge, sogenannte „Walks“, die die Geschichte des Nationalsozialismus anhand realer Orte erzählen. Im Mittelpunkt stehen persönliche Schicksale von Verfolgten, Widerstandskämpfer*innen oder Zeitzeug*innen sowie Orte, an denen die Geschichten passiert sind – etwa das Hotel Silber, der Ostendplatz oder die Statuen der Rossebändiger. Die Plattform macht es möglich, Geschichte im Alltag zu erleben – direkt vor Ort, dort, wo wir heute oft achtlos vorbeigehen. Die Inhalte sind über eine interaktive Website abrufbar und bestehen aus Texten, historischen und aktuellen Bildern, Zitaten und Audioguides. Die Inhaltliche Grundlage stammen unter anderem aus dem Hotel Silber, dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg und dem Stuttgarter Stadtarchiven. Neu ist die Integration einer Augmented Reality Funktion. Sie ermöglicht es Nutzer*innen, historische Ereignisse visuell in den heutigen Stadtraum einzublenden. Ein Beispiel: Am 14. März 1935 pinselte der damals 16-jährige Hans Gasparitsch die Parole „Hitler = Krieg" auf den Sockel der Rossebändiger-Statuen im Stuttgarter Schlossgarten – eine Aktion der Gruppe G, einer Widerstandsgruppe junger Antifaschist*innen in Stuttgart. Dank Augmented Reality kann diese Szene heute virtuell am damaligen Ort des Geschehens wieder sichtbar gemacht werden. Hans Gasparitsch ist einer der Menschen, deren Lebensweg und Widerstandshandeln Nutzer*innen bei „Walkable History“ entlang realer Orte in Stuttgart nachverfolgen können.
Wer war Hans Gasparitsch?
Hans Gasparitsch (1918–2002) war ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus aus Stuttgart. Schon als Jugendlicher engagierte er sich in der kommunistischen Jugendbewegung und leistete aktiven Widerstand gegen das NS-Regime. Mit 17 Jahren wurde er verhaftet und verbrachte mehrere Jahre in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Nach dem Krieg arbeitete er als Künstler, Grafiker und Zeitzeuge. Seine Geschichte steht exemplarisch für den mutigen Widerstand junger Menschen in Stuttgart.
Eigene Geschichte spielt eine Rolle
Milad steht unter Zeitdruck. Trotzdem wirkt er konzentriert. Mehrfach muss er während unseres Gesprächs eingehende Anrufe ablehnen. Man merkt schnell: Dieses Projekt ist mehr als nur ein Studienauftrag – es ist ihm eine Herzensangelegenheit. Der 28-Jährige hat den Eindruck, dass sich junge Menschen immer weniger mit der der Geschichte auseinandersetzen. Dem will er entgegenwirken und investiert deshalb viel Energie in das Projekt. Milad hat afghanische Wurzeln und aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte auch einen persönlichen Bezug zu Themen wie Verfolgung. Er weiß, dass solche Themen nicht einfach sind. Trotzdem will er dafür sensibilisieren. „Jeder sollte ein Interesse an Zeitgeschehen haben. Es ist kein großer Aufwand sich damit auseinanderzusetzen“, sagt er.
Aus der Vergangenheit lernen
Auf die Frage, ob er Bedenken mit Blick aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen hat, erklärt Milad, dass er Demokratie als Luxusgut begreift. Er ist sich nicht sicher, ob jeder sich bewusst ist, wie privilegiert wir mit dieser Staatsform sind. „Die AfD ist nicht gerade meine Lieblingspartei“, mahnt der Student. Es gebe durchaus Parallelen zwischen Kommentaren aus dieser Partei und Aussagen die 1930 bis 1945 getätigt wurden. „Da kann man manchmal schon ein bisschen Angst bekommen“, findet er.
Insgesamt beobachtet Milad den Rechtsruck in Teilen Europas mit Sorge. „Geschichte wiederholt sich – das sollten wir verhindern“, ist er sich sicher. Die Zukunft schwarz malen möchte er nicht. Im Rahmen von „Walkable History“ habe er sich mit Persönlichkeiten beschäftigt, die zeigen, was es heißt, sich nicht unterkriegen zu lassen. Hans Gasparitsch ist so einer. Auffällig oft fällt der Name in unserem Gespräch. Zwar will Milad vorsichtig sein, jemanden als Vorbild zu bezeichnen, weil man sich dafür die ganze Geschichte der Person anschauen müsse, seine Beharrlichkeit in jungen Jahren sei er aber durchaus beeindruckend.
Walkable History bei der Media Night erleben
Einen Einblick in das Projekt gibt es am 3. Juli bei der Media Night der Hochschule der Medien. Dort präsentiert das Team den aktuellen Prototyp der Webseite – Besucher*innen können selbst testen, wie Geschichte digital und interaktv erlebbar wird. So kann man die Audioguides anhören, die neue Augmented Reality Funktion testen und erleben, wie Geschichte direkt auf dem Bildschirm zum Leben erwacht.
Wieder stehen wir am Hotel Silber. Nur wenige Meter hinter uns gehen Menschen achtlos vorbei. Doch auf dem Display unseres Smartphones erscheint eine andere Zeit. Eine Zeit, die nicht vergangen ist – solange wir uns erinnern.