Kältebus Stuttgart

Drei Engel für die Obdachlosen

Freiwillige des Kältebusses auf der Suche nach Obdachlosen
05. Jan. 2018

Die Nächte in der schwäbischen Landeshauptstadt sind klirrend kalt. Wir, das Team des Kältebusses und ich, tragen dicke rote Jacken, unsere Hände frieren. Kaum vorstellbar, dass Menschen bei diesen Temperaturen die Nacht draußen verbringen. Wir sind auf der Suche nach Obdachlosen, die DRK-Helfer erzählen von ihren Erfahrungen und erklären, warum Stuttgart 21 auch für die Obdachlosen relevant ist. 

Zwei Abende zuvor laufe ich bepackt mit Geschenken durch die Einkaufsstraße. Mir ist kalt, doch daheim ewartet mich eine heiße Dusche. Ich warte auf die S-Bahn, in der Ecke sehe ich zwei Obdachlose, auf Kartons sitzend. Plötzlich kann ich nicht mehr auf die Geschenke stolz sein, für die ich gerade mein Monatsgehalt ausgegeben habe. Da ahne ich noch nicht, dass ich die Obdachlosen zwei Tage später wieder sehen werde.

Weihnachten!

Es ist kurz vor 22 Uhr an Heiligabend. Max, der 24-jährige Azubi und Ersthelfer, empfängt mich in der Zentrale des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Stuttgart-Bad Cannstatt. 

Er hat einen Ordner in der Hand und zeigt mir Orte, an denen wir heute Nacht Obdachlose antreffen werden. Die Tür der Eingangshalle geht auf und eine Frau kommt herein. Sie stellt sich mit Birgit vor. Kurz darauf folgt Babsi. Unser heutiges Einsatzteam ist komplett.

Sie nehmen mich mit in die Küche, in der wir Tee für die Obdachlosen kochen und in Thermoskannen abfüllen. Dabei erfahre ich, warum sie an Weihnachten hier sind. Für Babsi und Birgit wäre es falsch zu wissen, dass draußen viele auf der Straße frieren und sie selbst daheim Weihnachtsgans verdrücken. „Essen kann ich auch noch morgen – ich bin eh dick genug“, sagt Max spöttisch. Trotzdem ist es eine Überwindung, an einem Tag zu arbeiten, an dem andere mit ihrer Familie gemütlich zusammensitzen. Viele ihrer Kollegen wollen den Job nicht machen, haben Angst, was sie erwarten wird. Ganz im Gegensatz zu den Dreien, die die Nähe der Obdachlosen an diesen Tagen suchen.

Kältebus Stuttgart

Ehrenamtliche des DRK kümmern sich mit einem Kleinbus um hilfsbedürftige Wohnungslose im Stadtgebiet. Bei Minusgraden sind sie von 22 Uhr bis 3 Uhr unterwegs. Immer dabei: heißer Tee, Schlafsäcke, Decken, Kleidung und Snacks. Die Helfer vermitteln auch Hilfsangebote der Stuttgarter Wohnungsnotfallhilfe.


Weihnachtsaktion


Stuttgarter Bürger hatten bis zum 24. Dezember 2017 Zeit, Päckchen und Tüten mit 24 nützlichen Dingen für die Obdachlosen zu packen. Am Heiligabend wurden diese dann mit dem Kältebus verteilt.

Birgit füllt den heißen Tee für die Obdachlosen ab

Wir fahren Richtung Bad Cannstatt. Dort treffen wir am Bahnhof eine Gruppe Männer. Betrunken und laut. Einer sticht heraus. Er versucht, die anderen zu beruhigen. Birgit gibt ihm eines der Weihnachtspäckchen und redet mit ihm. Schnell merke ich, dass sie mit ganzem Herzen dabei ist.

Gerne nimmt er das Geschenk an

Ich frage mich, weshalb vernünftige Menschen wie er auf der Straße leben. Warum lassen sie sich nicht helfen und gehen in eine der zahlreichen Unterkünfte der Stadt? „Wir bieten natürlich auch an, die Menschen in eine Unterkunft zu fahren. Aber es wollte noch nie jemand mit, auch nicht bei minus 15 Grad. Das ist halt so”, akzeptiert Birgit die Situation. Max antwortet: „Streit, Überfüllung, Diebstahl und Stress. Aber auch wegen ihrer Hunde, oftmals treue Wegbegleiter der Obdachlosen, die nicht reindürfen.” 

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Zahlreiche Unterbringungsmöglichkeiten können der Anfang aus der Obdachlosigkeit sein | Quelle: Sozialamt Stuttgart

Mehr als anbieten kann man es den Leuten nicht. „Ich denke da nicht besser oder schlechter über sie”, sagt Babsi. Das finde ich faszinierend. Wenn ich von mir ausgehe, hätte ich wohl irgendwann keine Motivation mehr zu helfen. Birgit scheint meine Gedanken gelesen zu haben: „Es gibt wirklich viele, die hatten einen tollen Job, Familie, waren Manager. Menschen, die ein ganz normales Leben hatten. Man schlittert da leicht rein, oft wendet sich dann auch die Familie ab. So was geht Schlag auf Schlag.“ Sie spricht aus Erfahrung. Hat es aber mit Hilfe ihrer Freunde schnell wieder zurückgeschafft. Das war vor Jahren. Und da wird mir bewusst, wie dankbar ich für meine Lebenssituation sein kann. Das wird oft zur Selbstverständlichkeit.

Unterwegs zum nächsten Ziel sollen wir die Augen offen halten. Gerade in den Ecken liegen oft Menschen. Aber auch an anderen Orten: „Wenn Obdachlose auf Laderampen liegen, ist das echt gefährlich. Da gibt es Zustände, ach das tut mir in der Seele weh“, meint Babsi. Wir fahren vorbei am Römerkastell. Ich frage Birgit nach ihrem eindrücklichsten Erlebnis auf der Straße. Sie denkt kurz nach und erzählt mir von einer Frau. „Sie lag da einfach und ich fragte, ob ich etwas für sie tun könne.“

„Das Einzige, das ich mir wünsche, könnt ihr mir eh nicht erfüllen: warme Spaghetti mit Tomatensoße.“

Obdachlose

„Diese Antwort rührt mich bis heute”, sagt sie. Die Obdachlose lag auf ihrem Schlafsack. Das sei die sicherste Variante, um schnell flüchten zu können. Vor anderen Obdachlosen oder osteuropäischen Banden. Nicht aber vor der Polizei, denn sogenannte „Säuberungen”, wie man sie aus Berlin kennt, gibt es in Stuttgart nicht.

Wir sind jetzt auf dem Weg Richtung Fernsehturm. Es ist knapp drei Uhr morgens, die Schicht ist fast zu Ende. Angekommen am Kräherwald halten wir auf einem dunklen Parkplatz. Nach einem kurzen Fußweg stoppen wir. Es ist stockdunkel. Mit unseren Taschenlampen leuchten wir ein Zelt an. Später erfahre ich, dass der Mann seit fast 15 Jahren hier wohnt. Und das mit knapp 90 Jahren.

Ein Lager mitten im eiskalten Stadtwald

Viele Baustellen – kein fester Platz

Ich frage, ob sie oft dieselben Menschen antreffen. „Früher eher, aber heute nicht mehr“, sagt Max und erläutert: „Wegen des Bauprojekts Stuttgart 21 und den vielen Baustellen wurden die Obdachlosen von bekannten Plätzen vertrieben. Gezwungenermaßen. Das Gebiet ist viel weitläufiger geworden. Wir finden sie nicht mehr an ehemalig bekannten Plätzen rund um den Bahnhof. Die Baustellen haben sie vertrieben und über die Stadt versträut.“ 

Auch heute schaffen wir es nicht, alle Ziele abzufahren.

Vielleicht ändert die Aktion nichts an der Situation der Obdachlosen. Aber für einen Abend konnten sie erleben, dass sie nicht vergessen sind. Dank Menschen wie Max, Babsi und Birgit, die gerne für sie wach bleiben.

Unendlich dankbar falle ich daheim in mein warmes Bett. Beim Einschlafen denke ich noch lange an die frierenden Seelen auf der Straße.

Auf gehts, jeder packt mit an
Weihnachtsstimmung in der DRK Zentrale
Voll beladen kann es los gehen
Andächtig im Weihnachtslicht steht er da: Der neue Bus
Heißer Tee tut gut bei der Kälte
Zuhören ist oft das Wichtigste
Kaum zu glauben, hier lebt tatsächlich jemand