Stundenlang in Bäumen sitzen, die Nächte in vier Metern Höhe verbringen und dabei in 15 Kleidungsschichten gehüllt sein – das ist Alltag für Baumbesetzende. Doch was treibt sie an?

Luise Schneider

Stundenlang in Bäumen sitzen, die Nächte in vier Metern Höhe verbringen und dabei in 15 Kleidungsschichten gehüllt sein – das ist Alltag für Baumbesetzende. Doch was treibt sie an?

Luise Schneider

Der Baumbesetzer

Aktivismus in der Krone

Luise Schneider

Der Baumbesetzer

Aktivismus in der Krone

Luise Schneider

Kehliges Krächzen der Raben mischt sich mit leisen Klängen einer Ukulele, die von den nackten Baumkronen widerhallen. Ein letzter Schimmer goldenes Licht schwindet, während sich die Dunkelheit über die alten Platanen senkt. Die kräftige Astgabel hält Julius in der Luft. Sein Rücken lehnt an dem kahlen Stamm des Baumes. „Weil unsere Träume höher fliegen, als eure Hebebühnen reichen. Weil unsere Herzen lauter schlagen, als eure Kettensägen kreischen“, singt Julius, während die Saiten unter seinen Anschlägen vibrieren.

Er trägt eine rote Outdoorjacke über einer himmelblauen – insgesamt zwölf Schichten, die ihn vor der Kälte schützen. Eine Viertelstunde hat er gebraucht, um sie anzuziehen. Gestrickte Wollsocken lugen aus seiner Hose hervor und stecken in Wanderschuhen. Auf seinem Kopf sitzt eine schwarze Beanie mit der Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“. Dunkelblonde Haarspitzen ragen darunter hervor.

Julius ist Aktivist. Baumbesetzer. Und Student. In drei Tagen schreibt er eine Prüfung, aber jetzt zählt der Protest. Er war bei vielen Baum- und Waldbesetzungen – mal für wenige Tage, mal für einige Wochen. Manchmal nur als Unterstützung, mal hat er die Besetzung mit organisiert. So auch diese. Seit Donnerstag, dem 30. Januar, besetzt er zusammen mit einer kleinen Gruppe Aktivist*innen des „Bündnis Karlsruher Platanen bleiben“ die Platanen vor dem Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Sie protestieren gegen die geplante Abholzung der Bäume, die für den neuen Anbau des Staatstheaters gerodet werden sollen.

Ziel der Modernisierung sei es, die Arbeitsbedinungen zu verbessern und den Theaterbetrieb langfristig zu erhalten, legt Lucas Bauer Leiter der Sanierungskommunikation des Staatstheaters dar. An drei Tagen Anfang Februar an denen die Temperaturen nicht über fünf Grad steigen begleite ich die Aktivist*innen.

Neben vereinzelten Baumbesetzungen gibt es auch große Waldbesetzungen, wie die Besetzungen im Hambacher Forst und Dannenröder Wald. Bei diesen werden ganze Waldabschnitte für Wochen, Monate oder auch Jahre besetzt. Baumbesetzungen sind eine Form des zivilen Ungehorsams – ein öffentlicher Protest, der gewaltfrei bleibt, aber bewusst Gesetze überschreitet.

Tag 1 - Einsam auf Einsam

Es ist fast drei Uhr nachts, als Julius sich schlafen legt – er hat die Nacht in den Platanen verbracht. Einsam auf „Einsam“ – so heißt die einzige Plattform der Besetzung. Sie besteht aus Holzlatten und ist in die Bäume gespannt. Nur durch ein Seil zu erreichen. Sie ist groß genug für ihn, zu klein für zwei. Eine olivfarbene Isomatte dient als Matratze. Eine Plane schützt vor dem Regen. Alles ist mit Seilen gesichert. In den umliegenden Bäumen hängen Wanderrucksäcke und Hängematten, in denen die Aktivist*innen sich nachts schlafen legen. In den Rucksäcken sind Essensvorräte. Ein waldgrünes Tarp hängt neben einem weißen Joghurteimer mit Sägespänen. Daneben spannt sich ein Transparent mit der Aufschrift „Karlsruher Platanen bleiben“ zwischen den Bäumen. Schon einmal ist das Plakat in den Straßen von Karlsruhe geflattert. 2023, als die alten Platanen in der Kaiserstraße gefällt werden sollten, hing es über der Fußgängerzone. Auch damals ist Julius dabei. Heute hängt es wieder. Das Ziel bleibt gleich. Nur der Ort hat sich verändert. 

Am Vormittag liegt der Himmel schwer über dem Platz. Dumpfe Motorengeräusche summen in der Luft, während schwere Fahrzeuge die Stämme der Platanen abtransportieren, die in den letzten Tagen gefällt wurden. Autos fahren vorbei. Eine Straßenbahn bimmelt.

Der Klettergurt schneidet Gruben in seine Hosenbeine, während sich Julius, gesichert an einem Seil, mit einem leisen Sirren Richtung Boden gleiten lässt.

Luise Schneider

Der Klettergurt schneidet Gruben in seine Hosenbeine, während sich Julius, gesichert an einem Seil, mit einem leisen Sirren Richtung Boden gleiten lässt.

Luise Schneider

Es war die kälteste Nacht der Woche, doch ihm war nicht kalt – der Schlafmangel sei das größere Problem, erklärt er mit ernstem Gesicht. Alles werde schwerer dadurch. Seit dem Morgen hängt er in den Platanen und muss längst auf Toilette.

Zwei Aktivisten baumeln in den Bäumen neben ihm, während ein Streifenwagen langsam vorbeifährt. Julius verharrt, greift mit schnellen Fingern an das Seil, versucht sich zu sichern, um bei einem Stopp des Autos schnell wieder Höhe zu gewinnen. Doch der Wagen fährt weiter. Er spannt das Seil fester. Eine Schlaufe für die Sicherung am Körper, eine für den Fuß. 

Aufsteigen. Hochziehen. Aufsteigen. 

Wieder hochziehen. 

Auf zwei Metern Höhe hält er inne. Lehnt sich nach hinten und lässt sich in die Luft sinken. Wie auf einen bequemen Sessel. Seine Füße baumeln über dem Asphalt.

Aktivismus als Symbol

Eine Passantin mit neongelben Fahrradhelm bringt ihr Fahrrad vor den Platanen zum Stehen. Sie schaut zu Julius hinauf: „Das ist furchtbar. Ich habe keine Worte mehr dafür. Danke, dass ihr das macht.“ Julius bedankt sich lächelnd und erklärt, dass die Bäume am Freitag hätten gefällt werden sollen. 

Es sei schön bei einer Aktion mit so vielen positiven Reaktionen dabei zu sein, sagt er lächelnd. Natürlich habe es in der Vergangenheit auch Proteste gegeben, die auf Kritik stießen. Doch nach all der Zeit habe er sich eine dicke Haut zugelegt, meint er gelassen. Aktivismus hätte schon immer zu seinem Leben dazu gehört. Auch seine Eltern seien durch ihn aktiv geworden und unterstützten viel, fügt er schmunzelnd hinzu. „Ich glaube, dass symbolische Aktionen etwas bewirken. Weil wir Aufmerksamkeit bekommen. Und ehrlicherweise ist die Aktion hier ja gar nicht nur symbolisch – sie treibt den Preis der Baumfällung in die Höhe.“ Er spricht ruhig, aber bestimmt. Seine Miene ist ernst. Er mache es freiwillig, aber er fühle sich von den Umständen gezwungen. Er stehe immer wieder vor Gericht. Aktivismus koste Arbeit. Zeit. „Manchmal würde ich, jetzt ehrlicherweise, viel lieber auf der warmen Couch sitzen und für meine Prüfungen lernen.“ 

„Manchmal würde ich, jetzt ehrlicherweise, viel lieber auf der warmen Couch sitzen und für meine Prüfungen lernen.“ 

Julius

Sebastian Barth, Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Ökologische Konflikte“, erklärt, dass Konfliktführung Energie und Mittel koste. Je intensiver ein Konflikt sei, desto höher seien auch die Kosten diesen aufrecht zu halten. Das könne auch gezielt als Strategie genutzt werden, um politischen Druck zu erzeugen und so die Kosten des Konfliktgegners zu steigern. Gleichzeitig berge diese Strategie Risiken, für Aktivistinnen und Aktivisten aber auch für den Konfliktgegner, beispielsweise dem Staat. „Der Ressourcenverbrauch kann so hoch sein, dass er auf Dauer nicht aufrechterhalten werden kann“, betont Barth.

So trat es auch bei dieser Besetzung ein. Bauer vom Staatstheater Karlsbad beschreibt, dass sich während der Besetzung Mitglieder der Gruppe „Karlsruher Platanen Bleiben!“ mit Vertreter*innen der Stadt und des Badischen Staatstheaters getroffen hätten. In dem Gespräch seien die unterschiedlichen Positionen zu den Themen Stadtgrün, Klimaschutz und der geplanten Sanierung des Theaters ausgetauscht worden.

Tag 2 - Joghurteimer mit Sägespänen

In den ersten zwölf Stunden der Besetzung trugen sie Windeln, um nicht vom Baum steigen zu müssen. Heute werden öffentliche Toiletten in der Nähe benutzt. Gegenüber den Platanen, in dem mehrstöckigen Wohnhaus mit den kleinen verschnörkelten Balkonen, stehen fünf Namen neben der Tür, bei denen sie klingeln dürfen, wenn es nötig ist. Der weiße Joghurteimer, der mit Sägespänen gefüllt ist, ist nur für den Fall einer erzwungenen Räumung durch die Polizei gedacht. Julius steht auf dem Parkplatz. Sonnenstrahlen vertreiben die Kälte auf seiner Haut. Seine Hände umschließen einen Pappbecher mit dampfenden Blaubeertee. Die Frage, wie die Aktivist*innen auf Toilette gehen, werde oft gestellt, erklärt er. Er bleibt einen Moment lang still, als würde er die Antwort abwägen. Schließlich sagt er: „Es macht uns menschlicher.“ Eine kurze Pause entsteht. „Denn dann sind wir nicht mehr nur Aktivisten, die in Bäumen hängen, sondern Menschen mit ganz normalen Bedürfnissen.“ 

Tag 3 - Sichtbarkeit mit Strategie

Vor dem Workshop wird geplant, diskutiert, getippt. Die Gruppe verweilt auf dem Parkplatz unter den Platanen – zu wenig, um den leeren Platz zu füllen. „Die Pressemitteilungen müssen noch raus“, murmelt Julius. Eine Aktivistin nickt. Sie hält eine lila Wärmflasche unter ihre Jacke geklemmt, hat eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und trägt eine rostrote Cordhose. Er zieht das Baumhandy aus der Jackentasche. Mit zersplittertem Display liegt es in seinen Händen. Anonyme SIM-Karte, Telegram und Signal für den Newsletter aus den Bäumen. Das Handy wird gemeinschaftlich genutzt und bleibt bei der Person, die gerade vor Ort ist. Pressearbeit spiele eine wichtige Rolle, um Aufmerksamkeit zu erregen, meint Sebastian Barth. Besonders Social Media biete Aktivistinnen und Aktivisten die Möglichkeit, ihre eigene Wahrnehmung zu steigern und eigene Sichtweisen ungefiltert einzubringen. „Ziviler Ungehorsam ist ein kommunikativer Akt und ist darauf angewiesen, dass er wahrgenommen und verstanden wird.“, erklärt Barth. Er betont, dass Medien und Presse eine entscheidende Rolle dabei spielen, wie über Aktionen berichtet wird und welche davon überhaupt Beachtung finden.

Zwischen den Seilen

Auf dem Asphaltboden, zwischen dem modrigen Laub, hocken vier Aktivist*innen. Einige kannten sich bereits vorher, andere haben sich erst in der Besetzung kennengelernt. Im kalten Wind flattert das rot-weiße Absperrband. Neben ihnen steht ein in die Jahre gekommener Thermobecher und einer Packung Studentenfutter. 

Auf dem Boden liegen Klettergurte verstreut. Alles gehört allen.

Auf dem Boden liegen Klettergurte verstreut. Alles gehört allen.

Die Aktivist*innen schmoren mit einem Feuerzeug das Ende eines gekordelten Seils an. Damit die Enden nicht ausfransen. Das Seil dient dazu, die Bäume in der Höhe zu verbinden – eine Verbindungsleine für den Notfall. Falls eine Räumung droht, können die Aktivist*innen sich daran entlanghangeln, von einem Baum zum anderen, schwebend zwischen den Stämmen. Doch im Alltag bleibt es ungenutzt. Eine Aktivistin nimmt das Seil, legt es um den kräftigen Stamm, zieht es hinüber zum gegenüberliegenden Baum, umspannt ihn fest. Sie zieht nach. Prüft die Spannung. Das Seil muss straff sein, stabil genug, um das Gewicht eines Menschen zu tragen. Nur Zentimeter über dem Boden wird die Technik geübt. 

Beim Gehen klimpern die Karabiner an Julius Klettergurt. Er trägt die gleiche Kleidung wie schon den Tag zuvor. Nur den Winterhandschuhen sind leuchtend pinke Arbeitshandschuhe gewichen. Die letzte Nacht hat er im Wohnheim geschlafen. Jede Nacht bleibt jemand in den Bäumen, um die Stellung zu halten. So wenige wie möglich, so viele wie nötig, damit die Besetzung niemals leer steht. „Hat noch irgendwer das Bedürfnis irgendwas zu üben?“, fragt er in die Runde. Julius hat Klettersporterfahrung. Die Klettertechnik soll gelernt sein. Klick. Der Karabiner hängt sicher im Gurt. Jetzt das Seil durchziehen. Ein konzentrierter Blick nach oben.

Während es bei den anderen Minuten dauert, ist er in der Zeit eines tiefen Atemzugs auf halber Höhe.

Luise Schneider

Während es bei den anderen Minuten dauert, ist er in der Zeit eines tiefen Atemzugs auf halber Höhe.

Luise Schneider

Als Julius im Baum sitzt, ruft er nach unten: „Soll ich dir etwas zu Essen mitbringen?“, „Ja, Nüsse“, ruft die Aktivistin mit der lila Wärmfalsche von unten herauf. Julius kramt das Studentenfutter hervor, verstaut es in eine kleine Plastiktüte und lässt es an einem Seil zu Boden. Die meisten Lebensmittel sind gespendet – von Passanten, Anwohner*innen, Unterstützer*innen. Vor allem Backwaren gibt es genug, an Obst und Gemüse fehlt es oft. Alle teilen was da ist. Und abends gibt es Pizza vom Italiener um die Ecke.

Grauzone im Protest

Julius sieht nach unten. „Cops“, ruft er. Die Aktivistin mit der lila Wärmflasche blickt zur Straße. „Sie fahren langsamer.“, sagt er. Ein Moment Stille. „Sie stehen vor der Schranke“, sagt Julius. Eine Pause. Dann ein Nicken. „Sie fahren weiter.“, gibt Julius Entwarnung. „Sie kommen oft vorbei“, erklärt die Aktivistin mit der lila Wärmflasche, „Fragen, wie’s uns geht. Bestimmt, um zu sehen, wie müde wir sind, wie kalt es uns ist.“ Bei größeren Besetzungen sei es wie ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Rechtlich gesehen sind Baumbesetzungen eine Grauzone. Wenn eine Baumbesetzung als politische Protestaktion gewertet wird, kann das Versammlungsrecht greifen. Wenn jedoch privates Gelände besetzt wird, kann das als Hausfriedensbruch gelten. Kommt es zu einer Räumung der Besetzung durch die Polizei und sich die Besetzer*innen widersetzen sich aktiv, kann das als Widerstand gegen Vollzugsbeamte gewertet werden.

Die Ukulelen-Klänge verstummen in den Bäumen. Julius sitzt still in der blattlosen Krone des Baumes. 

Das Licht einer einsamen Straßenlaterne durchdringt die Dunkelheit. Wie ein kleiner Mond scheint sie zwischen den Bäumen und Hängematten zu schweben.

Luise Schneider

Das Licht einer einsamen Straßenlaterne durchdringt die Dunkelheit. Wie ein kleiner Mond scheint sie zwischen den Bäumen und Hängematten zu schweben.

Luise Schneider

Wie lange sie bleiben, wissen sie nicht. Doch eines steht fest: Sie werden nicht gehen, ehe ihre Forderungen gehört werden.