Für viele ist es kaum vorstellbar, durch Krieg gezwungen zu werden, von heute auf morgen ein neues Leben zu beginnen. Für Ivanka ist es Realität. Eine Geschichte über Integration mit Heimweh. 

Ivanka Lishchenko

Für viele ist es kaum vorstellbar, durch Krieg gezwungen zu werden, von heute auf morgen ein neues Leben zu beginnen. Für Ivanka ist es Realität. Eine Geschichte über Integration mit Heimweh. 

Ivanka Lishchenko

Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Ivanka sitzt nach vorne gebeugt an ihrem Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer und schaut in einen kleinen Standspiegel. Sie fährt sich mit einem Lippenstift von MAC in ihrer Lieblingsfarbe, einem kühlen Rot, über die Lippen. Sie sagt, ein kühles Rot passe am besten zu einem sehr hellen Gesicht. Sie erzählt davon, wie es ist, sich in einem fremden Land ein neues Leben aufzubauen. Wenn man sie nach dem Krieg fragt, wird sie still. Sie meidet Blickkontakt, schaut aus dem Fenster, ihre Mundwinkel ziehen sich nach unten, wie von selbst. „Es ist ein schwieriges Thema für mich“, sagt sie leiser als zuvor. „Wann habe ich die Entscheidung getroffen, mein Land zu verlassen?“, wiederholt sie die Frage. „Nachts wachte ich auf und bekam Panikattacken wegen der lauten Explosionen. Auch wenn sie nicht in der Nähe waren, konnte ich sie genau hören. Ich wusste, dass ich damit nicht leben kann. Anfangs wurde uns gesagt, es würde nur eine Woche dauern. Mittlerweile sind es dreieinhalb Jahre.“ 

Run or Stay

Ivanka floh vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Damals lebte sie in Kyijw. Am Tag des Kriegsbeginns suchten sie, ihre Schwester und ihre gemeinsame Freundin Nadja Schutz in einer U-Bahn-Unterführung. „In solchen Ausnahmesituationen kennt der Kopf nur zwei Reaktionen: entweder Run or Stay. Mein Gehirn hatte sich für die Run-Reaktion entschieden, aber meine Schwester und Nadja wollten einfach warten, und ich fragte mich, auf was sie warten wollten. Ich wusste, dass dieser Angriff länger dauern würde“, erzählt Ivanka. Sie entschieden sich erst einmal dafür, zu ihrem Vater in die Westukraine zu gehen, weil es dort sicherer war. Kyijw sei zu dem Zeitpunkt eine einzige Katastrophe gewesen. Überall hätten Menschen in ihren Autos versucht, die Stadt zu verlassen, auf den Straßen habe es stundenlange Staus gegeben. „Im Haus meines Vaters sagte ich dann zu allen, dass wir die Ukraine verlassen müssen und dass ich nicht weiß, für wie viele Tage, aber jetzt gerade ist es zu gefährlich, in der Ukraine zu bleiben, aber die anderen wollten mir nicht zuhören.“ Sie meidet den Blickkontakt, in ihren Augen bilden sich Tränen. „Als es nach drei weiteren Tagen nicht besser wurde, habe ich meinem Vater gesagt, dass Nadja und ich das Land verlassen werden und er hat uns dann eine Fahrmöglichkeit zur polnischen Grenze besorgt.“ Dort mussten sie in einer alten Schule die Nacht verbringen. Am nächsten Morgen kam der Weitertransfer nach Warschau. 

Der Fahrer musste umkehren. Ukrainische Männer, die älter als 18 Jahre sind, können zum Kriegsdienst eingezogen werden und dürfen deshalb das Land nicht verlassen. In Warschau lebte Ivanka knapp drei Monate, aber sie war nicht glücklich. „Ich wusste, dass ich nicht weiter herumreisen konnte und mich irgendwo niederlassen musste.“ Von ein paar ukrainischen Bekannten soll sie gehört haben, dass es in Deutschland gute Studienmöglichkeiten gäbe, weshalb sie beschlossen habe, nach Berlin zu gehen. „Ich wollte eigentlich in Berlin bleiben, aber das mit der Anmeldung hat nicht geklappt. Durch eine Hilfswebseite für ukrainische Geflüchtete habe ich ein nettes Ehepaar kennengelernt, das mich in ihrem Haus in Stuttgart haben schlafen lassen und mir bei der Anmeldung geholfen haben. Seither bin ich in Baden-Württemberg“, erzählt sie.

Heute lebt Ivanka in Stuttgart. Sie hat sich integriert. Hat eine Wohnung, arbeitet, spricht die deutsche Sprache und trifft sich mit Freunden. Ihr nächstes Ziel ist es, ein Zertifikat zu bekommen, das ihr bescheinigt, die deutsche Sprache auf dem C1-Niveau zu beherrschen. Eine Voraussetzung, um hier ihr Studium fortzusetzen und einen Teil ihres früheren Lebens in die Gegenwart zu bringen. Bei der Frage: „Warum Deutschland?“, antwortet sie: „Das frage ich mich auch jeden Tag“ und lacht.

Ein neues Leben in einem fremden Land

Ihre Wohnung ist spärlich eingerichtet. Im Schlafzimmer stehen ein Bett, ein deckenhoher, holzbrauner Massivschrank und ein langer Schreibtisch mit zwei Stühlen, auf der einen Seite zum Schminken, auf der anderen, am Fenster, zum Lernen. An der Wand kleben viele Bilder aus ihrer Kindheit in der Ukraine. Auch wenn sie Deutsch bereits gut beherrscht, wechselt sie bei heiklen Themen ins Englische oder fragt nach. Als sie mir von ihrer Fluchtgeschichte erzählt, fragt sie: „Wie heißt die Person, die die Grenze überwacht?“ „Grenzpolizist?“ antworte ich und sie nickt und spricht weiter.

Etwas später kommt Nadja vorbei. Die beiden haben gemeinsam am 1. März 2022 die Ukraine verlassen. Seit sie in Deutschland wohnen, sind sie unzertrennlich. Nadja ist etwa im Alter von Ivanka, hat kurzes blondes Haar und arbeitet in einer Kindertageseinrichtung. Sie wohne nur ein paar Minuten entfernt und komme deshalb oft zum Kochen oder einfach nur zum Tratschen vorbei, erzählt sie. Die Arbeitsaufteilung beim Kochen ist klar. „Ivanka kocht und ich schaue zu“, sagt Nadja und lacht. Es gibt Borschtsch, eine traditionelle Suppe und UNESCO-Kulturerbe, wie Ivanka mir stolz erklärt, aus Rote Bete und Weißkohl.

Als Hauptgang gibt es Kohlrouladen, Holubtsi (ukr. Голубці). Hierbei wird eine Mischung aus Hackfleisch mit Reis in blanchierte Weißkohlblätter eingewickelt und anschließend im Topf für 40 Minuten gegart.

Als Hauptgang gibt es Kohlrouladen, Holubtsi (ukr. Голубці). Hierbei wird eine Mischung aus Hackfleisch mit Reis in blanchierte Weißkohlblätter eingewickelt und anschließend im Topf für 40 Minuten gegart.

In Deutschland hat Ivanka kaum Familie. Ihre Schwester kam vor etwa zwei Jahren nach und wohnt seitdem eine Etage unter ihr. „Mit Nadja und meiner Schwester habe ich mir hier eine kleine Familie aufgebaut.“ sagt sie und lächelt. Ihr Vater und ihre Großeltern leben noch in der Ukraine. Ihre Mutter ist vor einigen Jahren an einer Krankheit verstorben. Jetzt wohnt der Vater ganz allein in dem Haus in Schumsk, in dem Ivanka und ihre Schwester Viktoria aufgewachsen sind. Sie habe schöne Erinnerungen daran, sagt sie. Ein großes Haus mit einem üppigen Garten in einer Kleinstadt. Schumsk liegt in der Westukraine und hat gerade einmal 5.300 Einwohner (Stand 2022). 

„Mit Nadja und meiner Schwester habe ich mir hier eine kleine Familie aufgebaut.“

Ivanka Lishchenko

Mindestens einmal pro Woche spricht sie mit ihrer Familie in der Ukraine, doch als sie heute ihren Vater anruft, hebt dieser nicht ab. Stattdessen ruft sie ihre Großmutter an. Etwas später wird dieser Anruf durch den Rückruf des Vaters unterbrochen. „Hallo“, sagt eine tiefe Männerstimme. Ivanka sitzt vorgebeugt auf ihrem Schminkstuhl und stützt sich mit den Händen auf diesem ab. Zuerst spricht sie langsam und spielt mit ihren Ringen. Nach ein paar Minuten scheint sie aufzutauen. Sie redet schneller, lächelt die ganze Zeit, dann lachen sie. Nach einer Weile hebt sie den Blick vom Display. „Er freut sich über die Reportage“, sagt sie.

„Wenn ich Heimweh habe, telefoniere ich entweder mit meinem Vater oder schreibe Briefe an Kyijw“. Sie habe oft Heimweh, erzählt sie. „Ich stelle mir Kyijw dann als einen weisen, zugleich jungen Mann vor, der viel erlebt hat. Ich erzähle ihm, dass ich traurig darüber bin, nicht in meiner Stadt zu sein und dass ich Angst habe, meine Stadt irgendwann wieder zu besuchen und zu sehen, dass alles kaputt ist.“

Sprache als Hürde

Ivanka arbeitet seit etwa zweieinhalb Jahren im H&M in Stuttgart. Sie erzählt, dass es anfangs sehr belastend für sie war, Kundengespräche zu führen, weil sie Schwierigkeiten mit der Sprache hatte. „Manche Kunden haben mir dann geholfen, andere haben sich beschwert. Dann habe ich eine Kollegin geholt.“ Im Laden ist es warm und hell. Sie steht angelehnt hinter dem Kassentresen. Die Sprache ihres Kassenbildschirms ist auf Englisch eingestellt. Eine Kundin kann den Preis auf einem T-Shirt nicht lesen, Ivanka nimmt es, knibbelt kurz am Etikett und liest den Preis ab. Sie kassiert die Dame und der Prozess ist innerhalb einer Minute abgewickelt. Dann geht das Ganze von vorne los. „Hallo.“ „Hallo.“ „Brauchen Sie eine Tüte?“ Ein paar Klicks, das Piepen des Bezahlvorgangs, dann der Kassenzettel, die Tüte wird übergeben und noch einen „schönen Tag“. „Ich habe hier angefangen mit dem A2-Niveau, aber ich hatte nie Angst vor Kundengesprächen. Ohne Praxis kann man eben keine Sprache lernen, auch wenn ich abends immer mit Kopfschmerzen nach Hause gegangen bin, durch die mentale Anstrengung.“ Ein weiterer Kunde, diesmal ein Umtausch. Auch hier ist der Prozess innerhalb weniger Minuten abgewickelt.

Ukrainische Geflüchtete erhalten in der EU einen vorübergehenden Schutz. Dieser wurde zuletzt auf den 4. März 2027 verlängert. In Deutschland dürfen Sie nach §24 AufenthG sofort arbeiten und bekommen bei Bedarf auch Leistungen vom Jobcenter.

Laut dem Ausländerzentralregister leben derzeit 1.269.871 Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland, die meisten davon haben einen Aufenthaltstitel (Stand 31. Juli 2025).

Mikro-Timeline von Ivankas Flucht: Kyijw ➞ Schumsk ➞ Warschau ➞ Berlin ➞ Stuttgart

Mikro-Timeline von Ivankas Flucht: Kyijw ➞ Schumsk ➞ Warschau ➞ Berlin ➞ Stuttgart

„Kennst du das, wenn es etwas gibt, wie eine Stadt, die du einfach liebst?“, fragt sie. „Bei mir ist das Berlin.“ Sie hat ein großes Lächeln auf dem Gesicht. Ein Sehnsuchtsort. „Ich versuche, mindestens einmal im Jahr dort hinzugehen und möchte dort auch an der Freien Universität Berlin mein Studium beenden.“ Die Architektur mancher Berliner Wohnviertel aus der sowjetischen Nachkriegszeit erinnert Ivanka an Kyijw. Für jetzt sei ihr Plan, erstmal etwas Geld zu verdienen, dann das C1-Zertifikat zu bekommen, an der Freien Universität Berlin angenommen zu werden und dann hier in Deutschland ihr Psychologie-Studium zu beenden. Auf die Frage, ob sie in ihre Heimat zurückkehrt, sobald der Krieg vorbei ist, antwortet sie: „Ich möchte den Krieg nicht mein Leben bestimmen lassen.“