Polyamorie
Ihr seid doch alle bindungsgestört!

11 Dec 2019
„Unsere Liebe wird tatsächlich mit jedem weiteren Partner stärker. Und manchmal fühlt es sich schon fast unfair an, wie glücklich ich bin!” Dieser Satz stammt von Rona, einer Frau, die sich für das polyamore Leben entschieden hat. Gemeinsam mit ihrem Mann Johann* spricht sie über Herausforderungen und Vorurteile dieser Beziehungsart.
Julika Olpp
Crossmedia-Redaktion/ Public Realtionsseit Sommersemester 2019
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Julia Lindner
Crossmedia-Redaktion / Public Relationsseit Sommersemester 2018
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Die Abenddämmerung leuchtet die kleine Wohnung im Stuttgarter Osten golden aus. Als sie die Türe aufschließt, nimmt sie den Geruch von frischem Chili wahr. Ihr Mann Johann begrüßt sie lächelnd und küsst sie leidenschaftlich. „Und, wie war’s?“, fragt er sie. Glücklich erzählt Rona von ihrem Date. In Johanns Gesicht zeigt sich keine Spur von Eifersucht. Das ist keine Seltenheit, denn Rona und Johann leben polyamor. Dieses Beziehungskonzept beruht darauf, gleichzeitig mehrere Personen zu lieben und zu diesen partnerschaftliche Beziehungen zu pflegen. Trotzdem stehen sie vor denselben Herausforderungen wie vermutlich jedes monogame Pärchen auch.
Knirschen im Getriebe
Dazu zählen zum Beispiel die Verlustangst und die Eifersucht. Ursache für das Aufkommen dieser Probleme sind unsichere Bindungen in der Kindheit, erklärt Richard Gruber. Er ist Trauma- und Körpertherapeut und klarer Befürworter der Polyamorie. Große Schwierigkeiten in der Beziehung zu den Eltern, vor allem zur Mutter, können unsichere Bindungstypen hervorbringen. Das hat zur Folge, dass es in späteren Verhältnissen jeglicher Art „immer irgendwo im Getriebe knirschen wird.”
Auch Eifersucht lässt sich möglicherweise auf eine Bindungsstörung zurückführen. Sie wird bei vielen Partnern als notwendiger Liebesbeweis verstanden, erklärt der Experte. Nicht so bei Rona und Johann. Die beiden sehen die Verlustängste eher als persönliches Problem, welches sie für sich selbst lösen müssen. Die Polyamorie hilft ihnen dabei: Mehrere Partner ermöglichen und zwingen gleichzeitig zu einer aktiveren Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Problematiken. „Menschen, die polyamor leben möchten, sind gefordert, tiefer in den Austausch zu gehen.” Der Schlüssel hierzu: Die Kommunikation, wie Gruber erklärt. Rona und Johann bestätigen das: „Wir müssen öfter einen Check-In machen, also unsere Gefühle und Bedürfnisse einander mitteilen, sonst besteht die Gefahr, dass sich über Tage hinweg etwas aufstaut.” Um den Herausforderungen im täglichen Austausch zu begegnen, hat das Ehepaar außerdem Regeln für sich festgelegt.
Trotz dieser Regeln ist die Kommunikation ein großes Thema, die sich tendenziell in der heutigen Zeit eher kurzlebig entwickelt. Polyamorie könne durch den intensiveren Austausch als Gegenbewegung angesehen werden, stellt der Experte fest. „Polyamore Beziehungen sind stabiler, weil sie durch den Austausch viel lebendiger sind und die Bedürfnisse viel eher befriedigt werden.” Weiter führt er aus, dass die romantische Beziehung, also Monogamie, bedeute, dass man eigentlich gar nicht groß kommunizieren müsse. Der andere wisse schon, was man möchte. Die sich verändernde Gesprächskultur sei Grund hierfür. Sie wirke sich auch auf Beziehungen aus. Er sieht das größte Problem darin, dass man es nicht mehr gewohnt sei, sich emotional mitzuteilen.
Sobald intensive Kommunikation stattfindet, kann sich dies in allen Lebensbereichen positiv auswirken, führt Gruber fort. Das merken auch Rona und Johann – sie tauschen sich jeden Tag intensiv aus. „Zwar ehrlich, aber auch nur so viel, dass die Privats- und Intimsphäre des anderen geschützt ist.”
Unverständnis, Intoleranz und Schweigen
Die Kommunikation zwischen dem Ehepaar funktioniert optimal, dennoch stehen sie vor großen Herausforderungen: dem Unverständnis und der Intoleranz anderer. Der Austausch mit Nicht-Polyamoren gestaltet sich oft schwierig: „Weniger bei jungen Menschen und auch weniger in der Stadt, aber sobald es in Richtung Dorf geht und vielleicht auch eher bei älteren Menschen, stoßen wir öfters auf Vorurteile!” Das hat konkrete Folgen für das Paar. Johanns Familie weiß bis heute nichts von seiner Polyamorie, auch wenn er es gerne erzählen würde. Als er versuchte, offen mit Freunden und Familie darüber zu reden, stieß er auf Unverständnis.
Seitdem er mit Rona verheiratet ist, stellt das Pärchen seine Ehe in den Vordergrund. „Viele denken, dass wir nur ein monogames Paar sind - das macht einiges einfacher”, erklärt Johann.
Doch das sind bei weitem nicht alle Vorurteile, denen sie sich stellen müssen:
Eine weitere Schwierigkeit ist zudem die Zeit. „Sie ist die größte Challenge, weil der Tag einfach nicht genug Stunden für alles hat”, beschreibt Rona. Damit steht das Pärchen aber nicht alleine da, wie Gruber feststellt: „Laut Statistiken bleiben Paaren im Schnitt weniger als zehn Minuten pro Tag Zeit, in denen sie kommunizieren.” Trotzdem ziehe man aus einer polyamoren Beziehung mehr, auch wenn der zeitliche Aufwand größer sei, behauptet der Therapeut. Das Mehr in einer polyamoren Beziehung komme daher, dass durch unterschiedliche Partner mehrere persönliche Interessen gleichzeitig erfüllt werden können. Das geht auch Rona und Johann so. Sie schöpfen viel aus der Polyamorie, weil ihre Gefühle und Wünsche mit ihrem Handeln übereinstimmen. Die beiden sind sich einig: „Es ist alles erlaubt, wenn man vorher darüber geredet hat!"
*Der Name wurde aus redaktionellen Gründen geändert.