Arrangierte Ehen

Mein Mann und seine zweite Frau

Der Spagat zwischen Liebe und Tradition
11. Dez. 2018

Was tun, wenn plötzlich zwei fremde Männer vor deiner Tür stehen und behaupten, dein Ehemann hätte in der Türkei eine weitere Frau und einen Sohn? Die Männer stellen sich als Brüder der zweiten Ehefrau vor. Dein Mann ist gerade in der Türkei bei seiner Familie und dein sechsjähriger Sohn schläft in seinem Zimmer.

Für Marie* brach an diesem Tag im Jahr 1996 ihre Welt zusammen. Elf Jahre zuvor hatte sie sich in Cems mandelförmige Augen in einer Diskothek verliebt. Sechs Jahre später heirateten sie, sodass er bei ihr und Sohn Samuel in Deutschland bleiben konnte. Nun soll dieser Mann seit mehr als drei Jahren eine andere Frau und einen weiteren Sohn in der Türkei haben?


Cems Erklärung war simpel: Es handle sich schlicht und einfach um eine in der Türkei ganz normale arrangierte Ehe, eine pragmatische Zusammenführung zweier Familien – nicht mehr und nicht weniger. Sie wurden nur von einem Geistlichen getraut, weshalb die Ehe nicht einmal rechtskräftig sei. Nie habe er Gefühle für Fatima, seine zweite Frau, entwickelt und auch keinen wirklichen Kontakt zum gemeinsamen Sohn gehabt. Einen gemeinsamen Haushalt gäbe es in der Türkei auch nicht, denn er liebe ja schließlich Marie und Samuel.

In vielen islamischen Kreisen gilt das Arrangieren einer Ehe als Dienst im Namen Gottes, da man heiratswilligen Personen dazu verhilft, einen Partner zu finden und die Zukunft abzusichern. Arrangierte Ehen werden von Dritten, meist den Eltern oder Verwandten in die Wege geleitet und organisiert. Die zukünftigen Ehepartner kennen sich häufig nur von einem einmaligen Treffen. Die Eheschließung wird nicht zwanghaft von den Familien gefordert, sondern hängt von der Zustimmung des Paares ab. Darin unterscheiden sich arrangierte Ehen von Zwangsehen, denn eine Zwangsheirat wird unter Ausübung von Druck oder Gewaltandrohung vollzogen. Das künftige Ehepaar hat keinerlei Recht auf Widerspruch. 

Frauen werden oft als Opfer dieser Eheformen angesehen, doch auch Männer gehen nicht immer aus freien Stücken diesen Weg. Frauen wenden sich aber öfter an Beratungsstellen. In islamischen Gesellschaften gelten Männer als das starke Geschlecht – Aufgeben oder die Suche nach Hilfe gelten als Schwäche, weshalb viele Männer stillschweigend weiter unglücklich bleiben.  

Doch nicht nur in dieser Kultur ist die arrangierte Ehe verbreitet. Auch in Deutschland war diese Form der Ehe durchaus üblich. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war es besonders für Frauen wichtig, nicht allein zu sein. Familien, die während des Krieges alles verloren hatten, versuchten, ihre Töchter gutbürgerlich zu verheiraten, um sie sozial und wirtschaftlich in der Gesellschaft zu verankern.

In Cems Familie hatte es bislang nur arrangierte Ehen gegeben, er fühlte sich dieser Tradition verpflichtet und wollte kein Außenseiter werden. Auch für ihn persönlich war die Situation schwierig, denn mit Marie hatte er eine selbstständige und emanzipierte Frau geheiratet, die er zwar liebte, die ihn aber auch verunsicherte. Entgegen seiner Tradition war er in dieser Beziehung nicht der dominante Mann. 

Fatimas größter Wunsch hingegen war es nach Deutschland zu kommen, weshalb sie der Ehe auch zustimmte. Während eines Zusammentreffens der Familien lernten sich die beiden flüchtig kennen – das nächste Mal trafen sie sich bei ihrer Hochzeit. Die Motive seiner Mutter waren neben der Tradition auch existenzielle Ängste. Sie kannte Marie nur von kurzen Besuchen während der Sommerferien, bei denen Marie sehr zurückhaltend war. Sie war sich sicher, dass die Deutsche kein Interesse an der Familie, dem Familienbesitz des Sohnes und der Kultur habe. Denn ein gängiges Vorurteil ist, dass deutsche Frauen sich im Alter nicht um ihre Männer oder um ihre Schwiegereltern kümmern, was in der türkischen Kultur Hauptaufgabe einer Ehefrau ist.

Marie kann mittlerweile die Motive ihrer Schwiegermutter nachvollziehen und sieht, dass sie sich Cems Familie von Anfang an mehr öffnen hätte sollen. Und auch ihre Schwiegermutter änderte nach einigen Jahren ihre Meinung über Marie: „Seine Mutter meinte, wenn sie mich damals so gut gekannt hätte wie heute, hätte sie die arrangierte Ehe niemals vorangetrieben.“ Letztendlich gab ihre Schwiegermutter zu, dass sie sich nie sonderlich gut mit Fatima verstanden hatte und Marie, durch ihre Stärke und die Loyalität zu Cem, ihre Lieblingsschwiegertochter wurde. Fatimas Wunsch, in Deutschland zu leben, ging nicht in Erfüllung. Ihr Sohn Eren hingegen zog mit elf Jahren zu seinem Vater und dessen Familie nach Deutschland. 

„Jetzt haben wir es bis hier hin geschafft, dann schaffen wir den Rest auch noch.“

Marie

Marie gibt zu, dass sie sich mehrmals trennen wollte, ans Aufgeben dachte und Cem dafür hasste. Cem hatte oft Angst um seine Ehe und seine Familie, doch ließ er Marie genug Freiraum, um das Geschehene zu verarbeiten. Heute sind Marie und Cem nur noch wenige Jahre von der Rente entfernt. Nach fast 30 Jahren Ehe freuen sie sich auf ihren gemeinsamen Lebensabend im selbst gebauten Haus in der Türkei und sind glücklich über den Zusammenhalt der beiden Brüder Samuel und Eren. 

 

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.