Inklusion

Kein Zutritt?

Einschränkung oder Teilhabe? Das Bundesteilhabegesetz bietet die Chance, Holger Schmids Alltag zu verändern
01. Sep 2018

Möchte man Holger Schmid besuchen, steht man zunächst vor einer verschlossenen Tür. Dass er selbst bestimmen kann, wer in seinem Zuhause aus und ein geht, ist nicht selbstverständlich.

Holger Schmid war mehrere Jahre alkohol- und drogenabhängig, ließ sich, wie er sagt, mit den falschen Freunden ein und brach mehrmals den Entzug ab. Er wurde straffällig und verwahrloste soweit, dass er eine Gefahr für sich selbst darstellte. Früher hatte er sein Zimmer unter anderen im geschlossenen Bereich des Luisenheims, eine Einrichtung der Behindertenhilfe in Rottweil. Dort entschieden andere für ihn, ob eine Tür geöffnet wird oder verschlossen bleibt. Die neugewonnene Selbstständigkeit hat er sich hart erarbeitet, aber ohne entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen würde er noch heute in einer Einrichtung mit engeren Strukturen leben.

2016 wurde das Bundesteilhabegesetz, kurz BTHG, von der Bundesregierung auf den Weg gebracht. Das Gesetz soll eine neue Sichtweise im Umgang mit behinderten Menschen einführen. Kernpunkt des Paradigmenwechsels: Bisher wurde der Fehler beim Einzelnen gesucht. Die Behinderung musste behandelt werden, um den Betroffenen anzupassen und „gesellschaftstauglich“ zu machen - der Trendbegriff ‚Integration‘ entstand. Nun soll sich das ändern. Nach der neuen Ausrichtung der Politik ist es jetzt aber die Gesellschaft, die den Betroffenen Steine in den Weg legt und ihnen so den Stempel aufdrückt, „nicht normal“ zu sein. Es liegt nun in der Verantwortung der Gesellschaft, Barrieren abzubauen, um eine normale Teilhabe aller zu ermöglichen.

Vorbild hierfür ist die Behindertenrechtskonvention der EU. Seit diese 2005 in Kraft trat, mussten aber erst weitere elf Jahre vergehen, bis entsprechende Schritte auch von der deutschen Politik eingeleitet wurden. Von dem Gesetz selbst hat Schmid noch nichts gehört. Dessen Auswirkungen werden in seinem Alltag aber an vielen Stellen deutlich.

In seinem neuen Zuhause fühlt sich Schmid wohl. Auch wenn es abseits der Stadt in einem Industriegebiet liegt.

Wo früher lange, graue Gänge mit Krankenhaus-Charme die gewohnte Umgebung für die Bewohner waren, ist es heute ein Wohnhaus, in dem sechs eigenständige WGs untergebracht sind. Schmid wohnt zusammen mit drei anderen Bewohnern des Luisenheims. Die Wohnungen wurden umfassend modernisiert und für die Nutzung als WG ausgestattet. Jede hat einen eigenen Balkon und auch ein gemeinsamer Freizeitraum mit Tischkicker, Dart-Scheibe und Fernseher gehören dazu.

Die Privatsphäre ist wichtiger Teil eines normalen Lebens. Betreuer sind jetzt nicht mehr rund um die Uhr vor Ort, sondern stehen bei Bedarf bereit und lassen den Bewohnern mehr Freiraum. Das BTHG sieht vor, dass die Hilfe unabhängig vom Wohnort erbracht werden kann. Die großen Komplexeinrichtungen sollen nach und nach abgeschafft werden und ambulanten Wohnformen Platz machen. Theoretisch kann der beeinträchtigte Mensch also sogar zuhause wohnen und sich die Hilfsangebote ins Haus holen. Neuer Freiraum, der zwar ungewohnt ist, aber auch anspornt. Schrittweise sollen die Bewohner so an ein normales Leben herangeführt werden.

Damit geht auch ein völlig neuer Ansatz zur Behandlung einher. Medikamente, die den psychisch Kranken gegen ihre Beschwerden helfen, schränken sie gleichzeitig im Alltag oft ein. An manchen Tagen sind sie weniger leistungsfähig und haben kaum die Kraft, um aus dem Bett aufzustehen. Möchte jemand weiter mit seiner Krankheit leben und weigert sich, Medikamente zu nehmen, so muss dieser Wunsch in Zukunft respektiert werden.

„Mehr möglich machen, weniger behindern“ ist der Wahlspruch, mit dem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales das neue Gesetz für mehr Teilhabe bewirbt. Eine Änderung, die nicht allein dadurch bewerkstelligt werden kann, dass man die Rechte beeinträchtigter Menschen ausweitet. Die Gesellschaft, an der sie teilhaben sollen, muss dafür bereit gemacht werden. Und dieser Prozess fängt im Kopf an. „Da muss schon noch was getan werden. Die meisten denken ja nur, wir sind krank und so weiter, aber wenn sie dich kennenlernen, geht das eine Weile und dann sagen sie plötzlich: Du bist ja ganz normal und total nett, man kann sich richtig mit dir unterhalten“, erklärt Schmid.

Möglichkeiten anzubieten, um einen Weg zurück zur Normalität zu finden, ist dabei essenziell. Denn wie Anschluss finden, wenn die Gelegenheit dazu gar nicht besteht? Auf die Frage, was ihm im Leben am wichtigsten ist, antwortet Schmid: „Meine Selbstständigkeit."

„Es kommt natürlich schon noch vor, dass mir hier jemand reinredet, aber die meiste Zeit kann ich mein Leben einfach selbst leben.“

Selbstständigkeit, die noch ihre Grenzen hat. Denn am sozialen Leben teilzunehmen ist teuer und Geld ist etwas, von dem den meisten hier zu wenig zur Verfügung steht. Holger Schmid bekommt im Monat 110€ Taschengeld - den größten Teil braucht er für Zigaretten. Für teure Aktivitäten bleibt so nicht mehr viel übrig. Essen gehen, shoppen, das alles sind ganz normale Dinge, die selbstverständlich zum Alltag dazugehören. Hat man aber nicht ausreichend Geld, ist der Zugang zu vielen sozialen Aktivitäten eingeschränkt.< /p>

Die bisherige Gesetzgebung hatte es beeinträchtigten Menschen sehr erschwert, auch in finanzieller Hinsicht am normalen Leben teilzuhaben. Die Eingliederungshilfe, die Schmid jetzt erhält, wurde als Sozialhilfeleistung gewertet und nur an sozialhilfebedürftige Personen ausgezahlt. Sprich: Um Unterstützung zu bekommen, musste man erst einmal arm werden. Inzwischen ist dieser Betrag unabhängig von der Sozialhilfe und bis zu einem Vermögenswert von 27.600€ werden die Ersparnisse der Bewohner nicht angerechnet. Zufriedenstellend ist die jetzige Lösung aber noch nicht.

Um seine Haushaltskasse ein wenig aufzubessern, bekommt Holger Schmid im geschützten Umfeld der Rehabilitationseinrichtung die Möglichkeit, arbeiten zu gehen. Die Arbeit nimmt einen großen Teil des Lebens ein. Sie kann dem Alltag eine Struktur verleihen und ermöglicht neue Kontakte. Schmid ist in der Wäscherei der Vinzenz von Paul Hospital gGmbH angestellt, zu welcher auch das Luisenheim gehört. Dort arbeitet er jeden Tag zwei Stunden - auch mit Kollegen, die nicht in der Einrichtung wohnen. Er berichtet glücklich davon, wie gut hier die Zusammenarbeit läuft: „Da sind auch Kollegen dabei, die draußen wohnen und mit denen verstehe ich mich super. Wenn wir Pause haben, rauchen wir eine Zigarette und reden auch mal miteinander. Die sehen mich als ganz normal an.“

Wie wichtig es ist, neue Kontakte zu knüpfen, weiß auch Schmid selbst: „Ich möchte mehr Kontakt zu Leuten, die draußen sind, als zu welchen, die im Luisenheim wohnen. Ich finde, dass mir das mehr bringt, als wenn ich immer mit den gleichen Leuten zusammen bin. Ich hab‘ zwar nix gegen sie, aber ich finde mich bringt das weiter, wenn ich welche hab‘ von draußen. Denn in den Gesprächen kann man einfach was Neues kennenlernen.“ Aber er erkennt auch bei sich selbst noch Beeinträchtigungen, die ihn im Alltag stören. Manchmal hat er seine Mimik nicht unter Kontrolle und sieht ängstlich aus, obwohl er sich ganz anders fühlt.

Sozialkontakt muss trainiert werden

Schon seit 2007 führt Schmid ein Leben abseits der Normalität. Verbindung zu Leuten außerhalb der Einrichtung hat er nur wenige. Eine mögliche Lösung hierfür: Ein Verein, in dem er sich über ein gemeinsames Interesse langsam an den Kontakt mit fremden Menschen gewöhnen kann. Bis jetzt jagt ihm dieser Schritt aber noch Angst ein. Vor allem aufgrund von schlechten Erfahrungen: „Letztens war in der Stadt eine Veranstaltung und die haben gesagt: ‚Für Leute vom Luisenheim kein Zutritt.‘ und da habe ich Angst, dass das bei einem Verein vielleicht auch so ist. Jetzt im Moment fühle ich mich so sicherer und vielleicht gehe ich einfach mal gemeinsam mit jemand vom Personal da hin, um mich daran zu gewöhnen.“

Das Problem: Die Bewohner haben zwar die Möglichkeit, eigenverantwortlich ins Schwimmbad zu gehen oder in Vereinen mitzuwirken, sobald sie sich diesen Schritt aber nicht alleine zutrauen, muss sie ein Betreuer begleiten. Ein Unterstützung, die personell oft nicht möglich ist. Hier sind, wie in allen Bereichen der Behindertenhilfe, die Auswirkungen des Pflegenotstands deutlich zu spüren.

Um beeinträchtigten Menschen den Mut zu geben, sich wieder ins soziale Leben einzubringen, müssen wir vor allem überdenken, welches Bild wir von psychischen Krankheiten haben. Andere Arten der Behinderung sind offensichtlicher. Begegnen wir einem Mensch im Rollstuhl, können wir uns ein Stück weit vorstellen, welche Beeinträchtigungen der Teilhabe diese Behinderung im Alltag mit sich bringt. Bei einer psychischen Erkrankung ist das nicht immer der Fall. Die lebhafteste Vorstellung, die viele Menschen von psychisch kranken Personen haben, kommt aus Filmen. Meist spielen sie dort die Rolle des Mörders oder weltfremden Psychopathen. Solche Bilder beeinflussen uns, wenn wir psychisch Kranken im Alltag begegnen. Viel zu schnell greifen wir auf Vorurteile zurück und reagieren mit Ablehnung.

Ablehnung, die sich bei den Betroffenen einprägt und wiederum für Ängste sorgt. „Es gibt immer noch viele, die auf Abstand zu mir gehen und keinen Kontakt wollen. Ich hab zum Beispiel beim Einkaufen das Gefühl, dass die uns nicht so mögen. Die sagen nur tschüss und machen ganz schnell. Ganz oft kommen sie extra zu uns und sagen: ‚Zeigen sie mal ihre Tasche‘. Deswegen gehe ich da auch nicht gerne hin.“

Man muss sich bewusst machen, dass abseits der Auswirkungen einer solchen Krankheit, dahinter immer noch ein ganz normaler Mensch mit ganz normalen Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten steckt. Die Änderungen durch das BTHG sind also der einzig logische Schritt, um psychisch beeinträchtigte Menschen besser in die Gesellschaft einzubinden. Um diese Ziele umzusetzen, reicht es aber nicht, bei den Betroffenen Halt zu machen. Dazu braucht es vor allem bessere Aufklärungsarbeit und mehr Möglichkeiten, einander zu begegnen und sich auszutauschen. Nur so können die Barrieren in den Köpfen auf beiden Seiten abgebaut werden.

Schmid kommt zu einem ähnlichen Fazit: „Rauszugehen, das kann ich alleine schaffen, aber es ist halt schwer, die Leute hierher zu bringen. Ich hatte zum Beispiel erst einmal Besuch hier. Da könnte man vielleicht mal eine Veranstaltung machen, dass die Leute von draußen auch mal reinkommen und man sich austauscht.“ Ein Austausch, der vielleicht dazu führt, dass bei Holger Schmid bald öfter Besuch an der Tür klingelt.