Cafébesucher Stuttgarts unter der Lupe

Ein Ort der tausend Geschichten

Selbst in der Kälte treibt es die Stuttgarter in und auch vor die Cafés. | Bild: Alexandra Cuic & Laurien Barthel
06. Dez. 2017

Nur eben einen Coffee to Go auf dem Weg zur Arbeit. Man könnte meinen, dass das Café für viele nur noch eine Anlaufstelle für den schnellen Koffein-Kick ist. Wer setzt sich heute noch hin und genießt sein Heißgetränk in aller Ruhe? Um das herauszufinden, stürzten wir uns in Stuttgarts Cafészene und stellten fest: Für viele hat das Café eine ganz individuelle Bedeutung.

Uns kommt der Duft von frisch geröstetem Kaffee und Croissants, die im Ofen auf die perfekte Bräune warten, entgegen. Vor dem Hintergrund leiser Kaffeehausmusik und lautem Stimmengewirr laden uns schlichte Holzstühle und bunte Retrosessel zum Verweilen ein. Wir treffen auf Hipster, Workaholics, Rentner und Familien, begeisterte Leseratten, gesellige Geschichtenerzähler und stille Beobachter. Die Cafés in Stuttgart sind so unterschiedlich wie ihre Besucher selbst.

Im Tatti ist so früh am Morgen noch nicht viel los. Die Inneneinrichtung wirkt dadurch noch puristischer. In der Mitte befindet sich der einzige Tisch des Raumes, an dem sich die Gäste versammeln und automatisch zu Gesprächen eingeladen werden. An der Decke sehen wir ein außergewöhnliches Dekostück: eine in sich gedrehte Wellplatte, die uns optisch an den Regenbogenfisch aus Kindheitszeiten erinnert. Der alte Klassiker Mr. Sandman von The Chordettes läuft. Im Außenbereich sichten wir einen Mann in einem dunkelgrauen Wollmantel, der vertieft in seine Zeitung blickt. Er hat etwas Geheimnisvolles an sich: braune, zerzauste Haare und stahlblaue Augen, wie die eines Huskys. Die Lässigkeit, die er ausstrahlt, ist vor allem seiner Zigarette und seinem Drei-Tage-Bart geschuldet. Was ihn wohl ins Tatti treibt? 

Theo ist nach eigenen Angaben zwischen 50 und 60 Jahre alt, im Herzen aber jung. Samstags geht er immer um 9 Uhr ins Tatti. Dort trinkt er den Haiti Roma, den Kaffee eines guten Freundes, und blättert in der Zeitung. Er sieht sich als ein „Adept der österreichischen Kultur“. Wie in Wien üblich, trinkt er seinen Kaffee nie zu Hause und verbringt Stunden im Café, um zu quatschen: „Ich rede gerne und viel, bin aber zugleich auch ein guter Zuhörer.“ Ist ihm mal nicht nach Reden zumute, gehe er in Cafés, wo er anonymer sei. Heute scheint keiner dieser Tage zu sein. Während er erzählt, schweift er gerne ab. Wir erfahren, dass er mit seiner Erfindung Siris, einem computergestütztem System zur Ballverfolgung im Tennis, 2003 Emmy-Award-Gewinner geworden ist. Oder wie Theo so schön sagt: „Sie haben einen Promi vor sich sitzen. Quasi einen, den keiner kennt. Ein Oxymoron sozusagen.“ Oxymoron ist nur eines von vielen rhetorischen Mitteln, das er verwendet. Theo wäre übrigens auch beinahe mit der Schwester des Tatti-Besitzers verheiratet gewesen. Der anfangs so mysteriös wirkende Mann wird immer nahbarer.

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Für Theo hat das Tatti am frühen Morgen etwas Mystisches. | Quelle: Alexandra Cuic & Laurien Barthel

Wir öffnen die Tür des Cafés Zimt und Zucker. Es ist groß und laut. Wie man beim Namen des Cafés vielleicht erwarten würde, riecht es nicht nach frischen Pfannkuchen, sondern nach Gemüsequiche. Wir lassen unseren Blick schweifen und finden, dass das Café den Flair eines Kunstflohmarktes hat: Buddha-Skulpturen, ein orangenes Keramikhuhn und eine Maria-Figur aus Porzellan sind nur einige der Dinge, die uns auffallen. Die Wände sind geschmückt mit Backformen und kindlichen Malereien. Wir setzen uns und fangen an zu beobachten. Neben uns unterhalten sich eine Frau und ein Mann auf Englisch. Sein Akzent klingt indisch. Vor ihnen liegen zwei Bücher: A manual for cleaning woman von Lucia Berlin und Inner Engineering. A Yogi´s Guide To Joy. von Sadhguru. Ihre Bluse und ihr Schal sind farblich abgestimmt und das Ziffernblatt ihrer Uhr zeigt eine Weltkarte. Der Mann wirkt mit seinem Sweatshirt etwas zu sportlich für die künstlerische Atmosphäre. Mit ausdrucksstarker Gestik untermalen die beiden, was sie aussprechen. Ab und zu wirken sie auch verlegen. Ob sie sich zum ersten Mal treffen?

Wir erfahren, dass Hari 26 Jahre alt und Inder ist. Er schreibt Gedichte und nimmt an Poetry Slams teil. Eva, die drei Jahre älter ist, hat er bei einem seiner Auftritte kennengelernt. Sie ist freiberuflich als Künstlerin tätig und mag Meditation, Yoga und Reisen. Die Zwei haben sich heute nach langer Zeit mal wieder verabredet. „When we meet, we always discuss a lot of topics from yoga to writing. But mostly our topics are about human nature, more on an artistic level”, verrät uns Hari. Für Eva ist das Café der ideale Ort für tiefgründige Gespräche und Inspiration: „The café is a nice place to communicate and to exchange thoughts with an inspiring noisy background.“ Lachend ergänzt Hari einen anderen Aspekt: „Without cafés, people would miss out on a lot of dates, I guess.” Eva hat dem nichts mehr hinzuzufügen und wir müssen schmunzeln.

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Hari und Eva probieren gerne verschiedene Cafés aus. | Quelle: Alexandra Cuic & Laurien Barthel

Beim Marienplatz befindet sich das Ratzer Records, ein Plattencafé. Wir hoffen, dass wir gleich nicht komisch beäugt werden. Egal. Rein da. Es läuft Musik, vielleicht die Rolling Stones. Rechts vom Eingang steht eine mit Zebrafell überzogene Holzbank, auf der rote Samtkissen liegen. Man ist hier auf kleinstem Raum von zahlreichen Platten und CDs umgeben. Ein paar Männer in ihren Fünfzigern haben sich an der Retrotheke versammelt. Wir haben das Gefühl, man kennt sich hier. Auf einem der Zebrafellhocker sitzt ein tätowierter, bärtiger Typ – ein Hüne von Mann – der aus einer Espressotasse trinkt. Wir sind kurz irritiert von seinem T-Shirt-Aufdruck: „It’s ok to kill humans to save animals, der auf den ersten Blick nicht zu einem Kerl wie ihm passt. Auf einer Hand hat er die Buchstaben D-A-R-K tätowiert und seinen kräftigen Hals ziert ein grüner, kindlicher Dino. Interessanter Typ. Ob das hier sein Stammcafé ist?

Frank ist 51 Jahre alt und Urstuttgarter. Er erzählt uns, dass eines seiner Hobbys das Sammeln von Platten ist. „Der Ort, wo wir uns jetzt gerade befinden, ist natürlich kein gewöhnliches Café, sondern ein Plattencafé, so heißt es ja auch ganz offiziell und das ist für mich das Schöne hier dran“, sagt Frank. Er genießt es, dass er gleichzeitig im Vinyl herumstöbern, Platten kaufen und exzellenten Kaffee trinken kann. Das macht es zu seinem Stammcafé. Man würde dort eine Menge Leute treffen, die man über die Jahre hinweg kennengelernt hat. „Das ist auch das Schöne an Cafés, dass man ins Gespräch kommen kann und eine gemütliche Atmosphäre hat“, fasst Frank zusammen. Auf den zweiten Blick wirkt der harte Rocker auf uns herzlich und gemütlich.

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Für Frank ist das Café tagsüber der Place to be. | Quelle: Alexandra Cuic & Laurien Barthel

Fasziniert von den Geschichten der bisherigen Besucher wollten wir weitere spannende Ansichten anderer Café-Liebhaber aufschnappen. Denn für jeden hat das Café eine andere Bedeutung: erweitertes Wohnzimmer, Boulevard, inspirierendes Chaos, ein Stück Kultur, Austauschplattform oder sozialer Hotspot. Was sie uns so erzählt haben? Klickt euch rein und hört genau zu! 

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Ein Ort, 10(00) Geschichten. | Quelle: Alexandra Cuic & Laurien Barthel

Wir sind überzeugt davon, dass Cafés wesentlich dazu beitragen, dass Geschichten entstehen, weitergetragen werden und die Stadt somit lebendig und bunt bleibt. Ein Leben ohne Cafés? Unser persönlicher Promi Theo hat es auf den Punkt gebracht und alle Stimmen unserer Geschichtenerzähler mit dem berühmten Loriot-Zitat vereint: „Ein Leben ohne Mops... äh, ohne Cafés ist möglich, aber sinnlos.“