Kinder-Intensivstation

Eine Handvoll Leben

Sarah betreut ein wenige Tage altes Frühchen im Brutkasten. | Bild: Marie Messmer
11. Dez. 2017

Es ist ein ergreifender Moment: Ein Kind erblickt das Licht der Welt. Für die Einen beginnt das Familienglück, für die Anderen ein schwerer Kampf. Auf der Kinder-Intensivstation sorgen sich Ärzte und Pfleger Tag und Nacht um das Überleben zu früh geborener Kinder. Über den Alltag und die Erlebnisse einer Kinderkrankenschwester.

 

Die Gänge im zweiten Stock der Kreisklinik Reutlingen sind leer. Sarah geht den verglasten Gang entlang, der zur Kinderstation führt. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Sie schließt die Eingangstür auf. Von den weißen, kahlen Krankenhauswänden ist nichts mehr zu sehen. Hier ist alles in warmen Gelbtönen gestrichen. Der Schriftzug im Eingangsbereich „Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt“ erinnert Sarah daran, dass ihr eine bewegende Nachtschicht bevorsteht.

Auf der linken Seite der Kinderstation befindet sich die Kinder-Intensivstation. 20 Betten stehen hier für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr bereit. Zwischen dem Isolationszimmer und dem Pausenraum befindet sich das Frühchen-Zimmer.

Es ist 23:07 Uhr. Seit einer Stunde steht die 25-jährige Kinderkrankenschwester Sarah Fruh nun am Brutkasten. Erst ein paar Stunden ist das Frühchen alt und scheint noch nicht zu wissen, was es von der Versorgung der Krankenschwester halten soll. Sarah reagiert auf das Weinen des Kindes wiederholt mit Beruhigungsversuchen. „Also gut, dann probieren wir das mit dem Schnuller nochmal. Wir schaffen das schon noch.“ Das Piepsen der Geräte blendet Sarah aus, ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem Frühchen.

Extremfall „Extremfrühchen“

Zu der Patientengruppe „Frühchen“ zählen Frühgeburten, die zwischen der 24. und 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. Das Geburtsgewicht der Frühchen liegt zwischen 500 und 2.500 Gramm. Das durchschnittliche Geburtsgewicht von Neugeborenen beträgt circa 3.500 Gramm. Mögliche Ursachen einer Frühgeburt können Komplikationen während der Schwangerschaft oder eine Erkrankung der Mutter oder des ungeborenen Kindes sein. Jedes zehnte Baby wird zu früh geboren.

In der heutigen Schicht betreut Sarah ein Extremfrühchen. Es wurde in der 23. Schwangerschaftswoche geboren und wiegt 520 Gramm. Das Frühchen passt gerade so in Sarahs Hände und ist so schwer wie zwei Packungen Butter. „Die Überlebenschance und Folgen der Frühgeburten sind unterschiedlich. Wir haben Frühchen, die gar keine Schäden davontragen. Dann gibt es Frühchen, die später motorisch eingeschränkt sind, schwerer zunehmen oder kleiner sind als andere Kinder. Und in härteren Fällen kann es sein, dass die Frühchen schwerstbehindert sind.“

Diese Nacht betreut Sarah drei Frühchen. Sie wechselt zum rechten Brutkasten, in dem ein Mädchen liegt. Im selben Moment betritt eine Ärztin das Zimmer. Über die blaue Dienstkleidung streift sich die Ärztin einen dünnen Schutzkittel und zieht Handschuhe an. Kurze Zurufe zwischen Ärztin und Schwester, dann beginnt die Routine. Sarah misst die Körpertemperatur und den Blutzucker. Währenddessen liest sie den Puls ab. Ein Pulsschlag von 160 bis 180 ist bei Frühchen normal. Das sind fast 100 Schläge pro Minute mehr als bei einem Erwachsenen. Die Ärztin dokumentiert die Vitalwerte, Ausscheidungen und Medikamente des Frühchens.

Es folgen letzte Anweisungen an Sarah, dann verlässt die Ärztin das Zimmer. Die Kinderkrankenschwester bleibt am Brutkasten stehen. Sie führt eine grüne Spritze in eine Sonde im Mund des Frühchens ein, die für die Ernährung des Kindes notwendig ist. Zehn Milliliter Milch bekommt das Frühchen. Nur ein Milliliter davon ist Muttermilch, denn mehr hat die Brust der Mutter noch nicht produziert. Sarah macht sich auf den Weg zum Medikamentenschrank. Sie braucht ein Medikament, dass dem Frühchen beim Verdauen hilft.

Beweggrund „Ethik“

Sarahs Wunsch war es schon immer, mit ihrer Arbeit Kindern zu helfen. Nach einem Praktikum auf der Wochenstation entschied sie sich für die Ausbildung als „Gesundheits- und Kinderkrankenschwester“. In den vergangenen zwei Jahren hat sich Sarah im Bereich Intensivmedizin spezialisiert. „Viele Leute haben eine falsche Vorstellung von meinem Beruf und denken, ich würde nur Windeln wechseln. Man muss wissen, dass der Extremfall auf der Intensivstation dazugehört. Manchmal komme ich an meine Grenzen und frage mich, wieso die Medizin das alles zulässt.“ Zu den Extremfällen zählt Sarah ein Frühchen ihrer heutigen Schicht. Es kann nicht selbstständig atmen und ist voller Zugänge. Der kleine Körper ist übersät mit roten, gelben und grünen Kabeln. Die Babys so verkabelt zu sehen, geht Sarah sehr nah. An diesen Anblick hat sie sich auch nach vielen Jahren auf der Station noch nicht gewöhnt.

Zu helfen, das Frühchen mit allen Maßnahmen am Leben zu halten, fällt Sarah oft schwer. „Manchmal überlege ich mir, ob es für das Kind besser gewesen wäre, wenn es hätte sterben dürfen. Sind die Folgen der Behandlung für das Kind nicht mehr Qual als Leben?“ Doch die Entscheidung über das Leben der Frühchen liegt nicht beim Personal. Die Eltern des Frühchens entscheiden, wann die Behandlung eingestellt wird. „Bei Extremfällen ist der Austausch mit meinen Kollegen sehr wichtig. Wir treffen uns dann im Ethik-Komitee. Das ganze Team setzt sich zusammen und bespricht im offenen Austausch die Fälle, das hilft sehr gut.“ Wie Sarah in so einem Extremfall als Mutter entscheiden würde, weiß sie nicht. Die Entscheidungen der Eltern kann sie trotzdem nachvollziehen.

„Wenn eine Mama um ihr totes Kind weint, rede ich gar nicht viel, sondern nehme sie in den Arm und weine mit ihr.“

Sarah Fruh

Sarah braucht den Rückhalt ihrer Familie, damit sie das Erlebte nicht ständig einholt. Vor allem, wenn ein Frühchen stirbt, beschäftigt sie das. „Es ist nicht immer einfach, privat und geschäftlich zu trennen. Ich habe meinen Vater an Krebs verloren. Durch die Krankheit und den Tod in meiner Familie habe ich nun einen ganz anderen Bezug zum Leben und Sterben.“

Nur zum Windeln wechseln, Blutabnehmen und wenn es Keime in der Klinik hat, trägt Sarah Handschuhe. | Bild: Marie Messmer

Sarah macht das Licht im Zimmer aus. Die Frühchen schlafen alle. Sie läuft in den Pausenraum. Auf dem Pausentisch liegen Pralinen und eine Dankeskarte von den Eltern. „Wenn ich genug Zeit habe ist es total schön, wenn die Eltern da sind und ich sie in die Pflege einbinden kann. Die Rückmeldungen der Eltern sind meine größte Motivation. Wenn sie mir sagen, dass ich einen tollen Job mache und ihr Kind sich bei mir wohlfühlt, dann hat sich alles gelohnt.“

Sarah greift zur Kamera und geht die Fotos durch, die sie geknipst hat, als sie die Frühchen in der letzten Schicht gebadet hat. „Zu sehen, wie sich die Kleinen entwickelt haben, ist so ein schönes Gefühl. Als sie geboren wurden, waren sie so instabil und wir wussten nicht, wie es ausgehen wird. Wenn sie dann zu Besuch kommen und ich sehe, wie gut es ihnen jetzt geht, dann weiß ich, dass ich hier genau richtig bin.“

Ein schrilles Piepsen lässt alle innehalten. Sarah und ihre Kolleginnen schauen nur noch auf die Monitore, die alle Kinder überwachen. Bei einem Frühchen geht die Sauerstoff- und Herzfrequenz runter. Nach wenigen Sekunden erholt es sich wieder. Sarah läuft zurück in das Frühchen-Zimmer. Sie will sicher gehen, dass alle Babies wohlbehalten schlafen.

Dank Sarahs Intensivschulung kennt sie den Verabreichungsgrund und die Wirkung der Medikamente genau. | Bild: Marie Messmer
Zur Behandlung der Neugeborenengelbsucht werden die Frühchen mit blauen Licht bestrahlt. | Bild: Marie Messmer
Sarah misst die Ausscheidung eines Frühchens: ein halber Teelöffel Urin in den letzten Stunden. | Bild: Marie Messmer
Sarah dokumentiert Vitalwerte, Ausscheidung und Medikamente des Frühchens zeitgerecht. | Bild: Marie Messmer
Die vermeintlich kleinen Schnuller der Neugeborenen wirken im Vergleich zu den Schnullern der Frühchen rießig. | Bild: Marie Messmer