Enthaltsamkeit

Das erste Mal – die Hochzeitsnacht

Für Sarah und Andreas hat es sich gelohnt, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten.
03. Dez. 2021
Viele freikirchliche Christ*innen entscheiden sich gegen außerehelichen Sex. Unterschiedliche Erfahrungen zeigen: Das Warten bis zur Ehe kann sich zwar für christliche Paare lohnen, sich aber auch negativ auf das Verhältnis zur eigenen Sexualität auswirken.

Das Feuer im Kamin loderte. Sarah und Andreas saßen eng nebeneinander auf dem Sofa und genossen die Zeit miteinander. Die Stunden vergingen schnell und sie fingen an, sich zu küssen. Auf einmal stand Andreas auf, rief: „Stopp! Das ist zu viel!“ und verließ das Zimmer. Sarah war von der plötzlichen Unterbrechung irritiert, aber auch dankbar dafür, dass Andreas ihnen die Grenzen des Paares in Erinnerung gerufen hat. Die Grenzen waren für sie wichtig – sie hatten nämlich den freiwilligen Vorsatz, mit dem Geschlechtsverkehr bis zur Ehe zu warten.

Der Versuchung widerstehen

Sarah erzählt, dass sie tun möchte, was Jesus sagt, um ein Leben im Überfluss zu erleben. Deshalb war für sie und ihren Mann Andreas von Anfang an klar, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten. Zwar sei man kein*e bessere*r Christ*in, wenn man sich bis zur Hochzeitsnacht aufspare, doch das Warten sei eine Art, wie man seine Liebe zu Jesus ausdrücken könne. Um der Versuchung widerstehen zu können, hat sich das Paar Grenzen gesetzt. Und zwar sollten die Grenzen so eng wie nötig sein, damit das Warten so leicht wie möglich falle, berichten sie. Deswegen haben sie zum Beispiel nicht beieinander übernachtet oder sich voreinander umgezogen.

Wenn Sarah nicht gewartet hätte, hätte sie etwas Gutes verpasst, meint sie. Sie wird auch ihren Töchtern raten, bis zur Ehe keinen Sex zu haben. Denn für Sarah hat sich das Warten bis zur Ehe „mega gelohnt“. Sie sagt dazu: „Es ist die beste Grundlage für unsere Ehe, dass wir beide gewartet haben.“ Es habe ihr unter anderem gezeigt, dass sie und ihr Mann ein starkes Team sind und dass sie das gleiche Ziel haben: nämlich „Gott die Ehre zu geben“.

Die Schattenseite

Für Mona Krähling, Vorstandsmitglied im Verein „fundamental frei“, hat sich die Enthaltsamkeit nicht gelohnt. Die Theologin war selbst lange Mitglied verschiedener Freikirchen und hat sich erst vor Kurzem dazu entschlossen, auszutreten. Sie hat wie Sarah und Andreas bis zur Ehe mit dem Geschlechtsverkehr gewartet. Heute kritisiert sie aber das Konzept und berichtet, dass sie aufgrund der Purity Culture keine gute Beziehung zu ihrem Körper hatte, weil er als sündhaft angesehen worden sei. Aufgrund ihrer Erfahrungen falle ihr es heute noch schwer, über Sexualität und sexuelle Vorlieben zu sprechen.

Der Begriff „Purity Culture“ (dt. „Reinheitskultur“) wird oft mit evangelikalen Christ*innen in Verbindung gebracht, doch man findet ihn auch in anderen Religionen, zum Beispiel im Islam. In der Reinheitskultur soll man jegliche sexuelle Gedanken und Handlungen vermeiden. Dem Verständnis der Purity Culture nach sind Frauen für die sexuellen Gedanken, Gefühle und Handlungen von Männern verantwortlich und sollten sich aus diesem Grund auch sittsam kleiden. Dies erklärt Linda Kay Klein, Gründerin der Organisation „Break Free Together“, die sich gegen religiöse Traumata einsetzt, auf ihrer Website.

Krähling erzählt, dass man in Jugendgruppen häufig zu hören bekommt, eine selbstbestimmte Sexualität sei Sünde und nur die Enthaltsamkeit bis zur Ehe sei der richtige Umgang mit dem eigenen Sexualtrieb. Wer eine andere Meinung habe, werde schnell verurteilt. Außerdem berichtet Krähling, dass in Leitungs- und Mitarbeiter*innenfunktionen häufig Ämter niedergelegt werden müssen, wenn man vor der Ehe Sex hatte und es bekannt wird.

Sie ist der Meinung, dass man Passagen über Sexualität in der Bibel nicht wortwörtlich übernehmen sollte, weil in deutschen Bibeln teilweise der Sachgehalt nicht korrekt übersetzt werde. Das sei zum Beispiel bei dem griechischen Begriff „Porneia“ der Fall, der oft mit Unzucht übersetzt werde, wie sie ihren Follower*innen auf Instagram erklärt:

Nach der Hochzeitsnacht

Sarah und Andreas geben zu, dass die Hochzeitsnacht und die Anfangszeit nicht „der Hammer“ waren. Sarah fiel es zum Beispiel anfangs schwer, sich auf die neue Form von Intimität einzulassen. Darüber zu sprechen war ebenfalls neu und ungewohnt für sie. Für Andreas war es wichtig, behutsam und liebevoll mit Sarah umzugehen. Aus diesem Grund wollte er lernen, Sarahs Signale richtig zu deuten. Das Ehepaar hat sich im ersten Jahr nach der Hochzeit viel über Sexualität und ihre Herausforderungen ausgetauscht. „Es war nicht einfach, aber gemeinsam haben wir es geschafft!“, erzählen sie. 

„Es war nicht einfach, aber gemeinsam haben wir es geschafft!“

Sarah Lauser

Krähling hat die Erfahrung gemacht, dass der Wechsel von Verbot zu Erlaubnis schwer sein kann: „Man soll die ganze Zeit keinen Sex haben dürfen, aber wenn man dann verheiratet ist, soll man sich als Frau auch nicht seinem Mann vorenthalten.“ Sie berichtet, dass sie vor der Ehe so lange ihr sexuelles Verlangen unterdrücken musste, dass es ihr schwergefallen sei, ihr Lustempfinden nach der Hochzeit sofort wieder zu spüren.

Kommunikation als Schlüssel zu einer guten Ehe

Nachdem Sarah und Andreas im ersten Jahr als Ehepaar viel kommuniziert haben, hatten sie nach einem Jahr „keinen Bock mehr zu reden“. Dennoch empfinden sie Kommunikation als sehr wichtig und halten auch nach vielen Ehejahren an ihr fest, denn sie habe das Paar zu einem Team zusammengeschweißt. Sarahs und Andreas´ Erfahrungen nach trägt die Kommunikation einen Großteil dazu bei, dass sie heute eine „tiefgehende Intimität“ erleben. Deshalb geben sie anderen christlichen Paaren mit, miteinander zu kommunizieren und gemeinsam zu lernen. Außerdem raten sie dazu, sich ein erfahrenes Ehepaar als Mentor*innen zu suchen und den Druck auf die Anfangszeit der Ehe rauszunehmen.

„Man hinterlässt immer ein Stück seiner Seele bei der anderen Person.“

Claudia Kaul

Die Paartherapeutin Claudia Kaul sieht Kommunikation als oberste Priorität in der Partnerschaft. Kaul empfiehlt, den oder die Sexpartner*in immer mit Bedacht zu wählen. Denn: „Man hinterlässt immer ein Stück seiner Seele bei der anderen Person.“ Wenn man sich nicht sicher wäre, dass dieser Teil bei dem anderen Menschen gut aufgehoben sei, sollte man auch keinen Geschlechtsverkehr mit ihm haben, erklärt sie und fügt hinzu: „Wenn man den eigenen Körper nicht kennt, weiß man auch nicht, was man selbst für Anforderungen haben darf.“

Das Feuer im Kamin prasselt wieder. Sarah und Andreas sitzen auf dem Sofa. Andreas muss Sarah nicht mehr an ihre Grenzen erinnern, wenn sie ihn stürmisch küssen möchte. Jetzt sind sie schließlich verheiratet – und genießen die Zeit zu zweit noch viel mehr.