Popkultur

„Cosplay ist wie Fasching mit Theater“

Als Cosplayer muss man wandlungsfähig sein.
18. März 2018

Für viele sind sie Freaks. Sie tragen Perücken, farbige Kontaktlinsen und stecken ihren Körper in ausgefallene Kostüme, nur, um auf Conventions schwitzend durch die Mengen zu watscheln. Was Cosplayer in ihrer Welt wirklich bewegt.

Samstag. Eine halbe Stunde vor dem Performance-Wettbewerb scharen sich die teilnehmenden Cosplayer im Hauptflur der Börse Dresden zusammen. Hier findet die DeDeCo statt, eine Convention, kurz Con, für Fans der japanischen Popkultur. Auch Biwa hat es noch rechtzeitig zu ihren Konkurrenten geschafft. Ihr Körper steckt in einem Ganzkörperanzug, auf ihrem Kopf thront etwas, das sie liebevoll ihren Marshmallow nennt. Ihr Freund Stefan steckt ihr die Flügel zurück in den Hut. Einer sitzt falsch, Biwa korrigiert. Alles muss perfekt sein, wenn es auf die Bühne geht. Die Aufregung steigt. Bei einem Performance-Wettbewerb zählt im Gegenteil zum klassischen japanischen Contest weniger das Kostüm als dessen Präsentation und die Kreativität des Kostümierten. Biwa hat ihren Auftritt deshalb mehrmals vor ihren Katzen Teddy und Alexa geübt. Hinter Biwa, die gerade das letzte Mal ihr langes, bonbonfarbenes Kunsthaar ordnet, steckt Jenny, eine Studentin aus Leipzig, die ihren Kleidungsstil mit drei Worten beschreibt – bequem, schlicht, Hose. Dass sie gerade in einer vollkommen gegensätzlichen Klamotte steckt, liegt an ihrem außergewöhnlichen Hobby.

Cosplay (jap. Kosupere コスプレ) ist ein Kunstwort aus den Begriffen Costume und Play. Der Begriff wurde von Noboyuki Takahashi geprägt und beschreibt eine Kunstform, bei der man sich als Charakter aus einem Anime, Manga oder Videospiel verkleidet und die Figur auch charakterlich verkörpert. Heutzutage sind Cosplays nicht mehr auf Charaktere der japanischen Popkultur beschränkt.

Schminke? Nur beim Cosplay. Im Alltag ist Jenny dafür nach eigenen Angaben zu bequem.

Donnerstag. Noch ein Tag bis zur DeDeCo. Noch zwei Tage bis zum Wettbewerb.

„2007 habe ich mich für ein Cosplay-Picknick angemeldet“, erzählt Jenny, während sie in ihrem Wohnzimmer sitzt und Alexa krault. Obwohl sie damals noch keine Verkleidung parat hatte, wurde sie sofort freundlich aufgenommen. Bis heute ist sie mit den Teilnehmern des Picknicks befreundet, in einem davon, Stefan, hat sie sogar einen Partner gefunden.

Die Figuren kosten zwischen 30 und mehreren Hundert Euro. Ausschlaggebend ist die Art der Bemalung.

Die gemeinsame Wohnung ist eine Manifestation ihrer Interessen und Hobbys. In den Regalen stehen unzählige Mangas und Animes, in Schaukästen posieren über siebzig dazugehörige Charaktere, die meisten davon weiblich. In Jennys Arbeitszimmer stapeln sich hingegen Stoffe, Nähzeug und Kostüme, die auf ihre Fertigstellung warten. Bis heute ist Jenny in fünfundsiebzig Cosplays geschlüpft, etwa dreißig davon hat sie selbst angefertigt. Während es in Japan nämlich üblich ist, die Kostüme fertig zu kaufen, hat sich in den Neunzigerjahren im Westen aufgrund der damalig schlechten Anbindung an die asiatischen Märkte eine Selbstmach-Kultur entwickelt. Bis heute ernten gekaufte Cosplays nicht selten schiefe Blicke. Jenny sieht darin kein Problem: „Solange man sich im Kostüm wohlfühlt und Spaß hat, muss man nicht unbedingt nähen lernen.“ Neben der Identifikation und dem Spielen des Charakters gehe es nämlich auch um das Ausleben der eigenen Kreativität.

Seit ihre Schwester ihr einmal aus Versehen den Stoff direkt an den Körper gesteckt hat, nutzt Jenny lieber ihre neue Schneiderpuppe.

Die kreative Arbeit, die sie in ihrem Studium zur Wirtschaftsmathematikerin vermisst, ist Jenny wichtig. „Ich liebe Herausforderungen“, erzählt sie und fügt lachend hinzu, dass sie trotz allem faul ist. Wenn sie in der großen Welt der japanischen Popkultur auf einen neuen Charakter stößt, der sie äußerlich und innerlich fasziniert, macht sich Jenny zunächst auf die Suche nach den richtigen Stoffen und Materialien. Ein Meter Stoff kann dabei bis zu zwanzig, dreißig Euro kosten, besondere Stoffe sogar weitaus mehr. Jenny, die aufgrund ihrer Kindheit Sparsamkeit groß schreibt, hält deswegen ihre Augen offen für alles, was man im Entferntesten als Ersatz verwenden könnte. „Die Füllung für meinen Marshmallow-Hut habe ich aus einem alten Sofa. Es fühlt sich gut an, wenn man Materialien für sein Kostüm upcyceln kann.“ Professionelle Cosplayer geben je nach Kostüm mehrere hundert Euro für Materialien, Schuhe und sogar Elektronik aus. Viele finanzieren sich durch Crowdfunding-Seiten wie Patreon oder Ko-Fi. Hier wie auch anderswo verkauft sich nackte Haut besonders gut – jedoch nur in der richtigen Größe. Wer nicht ins Schönheitsideal des Betrachters passt, wird auch mal beleidigt. Cosplay ist in gewissem Grad eben auch Fleischbeschau.

Auch die zeitlichen Investitionen belasten Jenny. Je nach Cosplay muss sie zwischen sechs Stunden und mehreren Wochen in ihrem Arbeitszimmer malen, basteln und nähen. Da sie das Zimmer auch zum Lernen nutzt, müssen die Materialien jedes Mal aufs Neue umgeräumt werden. „Das dauert allein schon dreißig Minuten“, meint Jenny genervt, während sie auf ihrem Schreibtisch ein paar Moosgummiteile zur Seite schiebt. Aus diesem Grund versucht sie oft gar nicht, unter der Woche nach dem Unterricht noch an ihren Kostümen zu arbeiten, sondern sich am Wochenende ganze Tage für ihr Hobby zu schaffen. Da sie dabei Serien schaut, näht sie auch schon einmal Teile falsch zusammen. „Wenn ich dann in Zeitdruck gerate, leidet vor allem eines: Mein Schlaf.“ Sowohl das Studium als auch das Cosplayen sind große Verpflichtungen für Jenny, die sich selbst als bessere Durchschnitts-Cosplayerin bezeichnet. Trotzdem empfindet sie das Cosplayen als Urlaub vom Studium und umgekehrt. Bei ihrem Hobby verfolgt sie nur ein Ziel: „Ich möchte mich wohlfühlen, stolz auf meine eigene Leistung sein und natürlich auch von anderen Feedback bekommen.“

Für die Leipziger Biwa und Stefan ist die DeDeCo in Dresden eine familiäre Convention.

Freitag. Start der DeDeCo. Noch ein Tag bis zum Wettbewerb.

Das Sich-Zeigen ist ein wichtiger Part des Cosplays. Unter anderem dafür reisen Biwa und ihr Freund Stefan jedes Jahr von Convention zu Convention. Dieses Jahr trägt Biwa zwei Cosplays auf der DeDeCo: Eines für den Wettbewerb und ein bequemeres für den anderen Tag, mit dem sie im Gegensatz zum anderen problemlos auf die Toilette gehen kann. Etwa siebzig Prozent der Con-Besucher tragen ein Kostüm. Die bunte Menge steht in einem schönen Kontrast zu den kalten, weißen Wänden der Börse. Biwa und Stefan können am ersten Tag kaum einen Schritt laufen, ohne von jemandem begrüßt zu werden. Auch um sie herum wird sich viel umarmt. In der Szene kennt fast jeder jeden. Biwa prüft ihre Handtasche: Wasser, check. Wechselklamotten, check. Die Tage auf einer Convention können lang werden, besonders, wenn man in einem nicht atmungsaktiven Kostüm steckt. Im Händlerraum warten Massen an Merchandise auf die Con-Besucher. Auch Biwa und Stefan beäugen interessiert die ausgestellten Sammlerstücke. Die japanische Popkultur, soviel ist sicher, ist ein buntes und schräges Universum. Bevor sich die Börse weiter füllt, peilen Biwa und Stefan gezielt den Foto-Raum an. „Beim Cosplay sind Fotos aktuell ein wichtiger Teil der Szene“, erklärt Biwa, während sie ihre güldene Haarverlängerung durchbürstet. Sich ablichten zu lassen ist zwar kein Muss, hat aber einen Vorteil: „Wenn sich daheim die Kostüme stapeln und der Platz eng wird, verkauft man auch Mal seine Werke. Das schmerzt. Aber wenn man Fotos von seiner Arbeit behalten kann, ist das schön.“

Je nach Qualität und Länge kann eine Perücke um die hundert Euro kosten.
Auch Jungs wie kamaru_cosplay kostümieren sich auf hohem Niveau.
Viele Kostüme schränken die Bewegungsfreiheit enorm ein. Den Cosplayern ist es das wert.

In Stefan hat sie nicht nur einen Partner gefunden, er lichtet sie ebenfalls regelmäßig in ihren Cosplays ab. Die beiden sind ein eingespieltes Team: Während Stefan um sie herumtänzelt, um die richtige Perspektive einzufangen, bietet ihm Biwa ein Set an Posen an, die sie und ihren Charakter in das richtige Licht rücken sollen. „Es ist wichtig, dass man sich vertrauen kann und dass der Fotograf weiß, welchen Charakter man verkörpert. Nur so kann das perfekte Bild entstehen.“ Mit einem prüfenden Blick schaut Biwa auf das Display der Nikon. Sie nickt, es gefällt. Jetzt trennen sich die zwei: Stefan hält nach anderen CosplayerInnen Ausschau, andere Fotografen sprechen Biwa an. Am Ende werden Visitenkarten ausgetauscht, auf der die Daten des Fotografen beziehungsweise des Cosplayers stehen. So bleibt man in Kontakt für zukünftige Shootings. Die Karten sind eigene Miniaturkunstwerke und werden von vielen gesammelt. Auch Jenny hütet ihre gesammelten Schätze in einem Album für Briefmarken. Die versammelten Cosplayer im Foto-Raum sind überwiegend weiblich. Als Junge ist man hier nahezu einzigartig. „Crossplay, also das Cosplayen eines Charakters, der ein anderes Geschlecht hat, ist beliebt“, so Biwa, die selbst vorrangig weibliche Hauptcharaktere cosplayt. „Wenn es ihm oder ihr Spaß macht, ein anderes Geschlecht zu verkörpern, sehe ich darin überhaupt kein Problem.“

Fotos sind das A und O. Ein Instagram-Account ist deshalb heutzutage für Cosplayer unverzichtbar.

Während sich der Fotoraum langsam füllt, tummeln sich auch auf den Gängen immer mehr Besucher. Viele schleppen große Koffer hinter sich her, in ihnen befindet sich, was das Cosplay-Herz begehrt – zierliche Elfenohren, bunte Kontaktlinsen, ansteckbare Katzenschwänze. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wer durch die Messe läuft, merkt schnell: Die Convention ist von Fans für Fans. Wer sich nicht für die Materie interessiert, der hat es schwer, sich hier zu begeistern.

Die DeDeCo ist längst nicht die größte Con in Deutschland. Viele Besucher gibt es trotzdem.

Auf Außenstehende kann das alles ziemlich verrückt wirken, besonders, wenn man von einem als Drachen verkleideten Jugendlichen plötzlich angefaucht wird oder zwei Frauen beobachtet, die sich unsichtbare Flüche an den Kopf werfen, während sie Bockwürste essen. „Es macht Spaß, sich in andere Charaktere hineinzuversetzen“, erklärt Biwa, „aber man muss nicht ständig in-Char sein, also sich dem Charakter entsprechend verhalten. Das kann sogar manchmal ziemlich nerven.“ Sie selbst wird kein einziges Mal richtig in-char sein, nicht am Freitag, nicht am Samstag und auch nicht am Sonntag, wenn die Pforten der DeDeCo schließen. „Im Grunde ist Cosplay wie Fasching: Man hat Spaß und ist verkleidet. Das Theater ist beim Cosplay nur viel wichtiger.“

Samstag. Tag des Wettbewerbs.

Während man die Menge der Con-Besucher am Freitag mit dem Wort „bunt“ beschreiben konnte, ist sie nun ein grelles Feuerwerk sämtlicher Farben. Die Convention steht am Samstag auf einem deutlichen Zenit der Kreativität. Überall wird sich geschminkt und zurechtgerückt, die Toiletten sind überfüllt von sich verkleidenden Menschen und vor den Toiletten warten ihre treuen Gefolgschaften. Auch Stefan hat vor dem Mädchenklo Platz genommen, in dem Biwa gerade in ihr Kostüm schlüpft. Als sie herauskommt, wedelt sie mit ausgestreckter Zunge mit den Händen. Es ist warm. Ihr langes, blondes Naturhaar hält sie mit einem Haarnetz in Schach.

Vorsichtig wird der Hut auf die Perücke gesteckt.

Stefan beäugt ihren Ganzkörperanzug und zupft an ein paar Stellen herum. Die lange, rosafarbene Perücke wird noch einmal glatt gestrichen, bevor sie auf Biwas Kopf Platz nimmt. Vorsichtig stülpt sie ihre Stulpen über. An den Fingerspitzen ist der Stoff bereits so dünn, dass man ihre Haut durchscheinen sieht. Es ist nicht das erste Mal, dass sie dieses Cosplay trägt. „Ich würde es gern verkaufen, auch wenn es mich schmerzt. Aber bevor ich es verkaufe, will ich noch eine schöne Erinnerung mit dem Cosplay machen.“ Obwohl der Hut mit Schaumstoff gefüllt ist, wiegt er nicht wenig. Biwa befestigt ihn mit Stefans Hilfe vorsichtig auf ihrer Perücke. Das dazugehörige Zepter in die Hand genommen und schon ist das Cosplay perfekt. Strahlend dreht sich Biwa vor ihrem Freund. „So würde ich im Alltag nie herumlaufen“, lacht sie, während ein kleines Mädchen sie mit großen Augen anstarrt. „Es bringt keinen Mehrwert. Und die gesteigerte Aufmerksamkeit brauche ich da auch nicht.“

In ihrem Cosplay geht Biwa auf keinen Fall in der Menge unter.

Diese Aufmerksamkeit ist ihr spätestens jetzt aber sicher. „Ich bin ein wenig selbstbewusster, wenn ich cosplaye. Als Kind habe ich bereits in der Theater-AG gemerkt, dass es viel Spaß macht, jemand anderes zu verkörpern. Auch das Feedback tut gut.“ Immer mehr Menschen sprechen Biwa an, während sie sich einen Weg durch die kostümierten Massen zur Sammelstelle der Wettbewerbsteilnehmer bahnt – mit verrenktem Kopf, damit ihre Flügel nicht festhängen. Der Wettbewerb beginnt. Mit weit aufgerissenen Augen betritt sie die Bühne und liefert ihre Show ab. Dabei performt sie Playback auf ihre eigene Stimme. Zu groß ist die Angst, dass die Technik aussetzt. Im Gegensatz zu manch anderem Teilnehmer ist ihr Auftritt kurz, aber er gefällt. Das Publikum klatscht laut, Stefan jubelt ihr aus der zweiten Reihe zu. Am Ende reicht es trotzdem nicht für eine Platzierung. Lächelnd posiert sie mit den anderen auf der Bühne, bevor sie wieder im Zuschauerraum steht und Stefan umarmt. „Ich mache das nicht, um zu gewinnen. Ich mache das, weil es mir Spaß macht.“ Obwohl Biwa eine Menge Schweiß und Tränen in ihr Hobby steckt, ist es ihr die Sache wert. „Ich bin in meinem Kostüm ein Aushängeschild meiner Leidenschaft. Gibt es etwas Schöneres?“